Sie hatte das Verlangen, jeden Augenblick jemandem zu sagen: »Man hat Kolja entlassen. Wissen Sie? Kolja ist entlassen worden!« Doch sie hatte niemanden, dem sie es sagen konnte.
Das Jahr ist 1937. Sofja Petrownas Mann, der Arzt Fjodor Iwanowitsch, ist gestorben, sie lebt mit ihrem Sohn Kolja in einer kleinen Kommunalka in Leningrad. Sie arbeitet in einem Verlagshaus als Leiterin des Schreibbüros. Sie ist überzeugt, dass die Staatsführung ihre Kraft zum Besten des Volkes einsetzt. Lydia Tschukowskaja hat den Roman im Winter 1939/40 geschrieben. Sie ist also zeitlich nahe am Geschehen und an ihrer Protagonistin, es gibt keine Distanzierung im informierten Rückblick, der Leser ist eingebunden in die erzählte Geschichte.
Es gab jedoch keine Leser, denn der Text konnte während der Herrschaft Stalins selbstverständlich nicht veröffentlicht werden. „Ohne Wissen der Autorin erschien der Roman später in Zürich, Paris, London und New York gleichzeitig, und erst 1988 in der Sowjetunion“ unter Gorbatschow. (Gisela Reller)
Kolja, Stolz und Lebensmotivation von Sofja Petrowna, Mitglied im Komsomol und überzeugter Bolschewik, arbeitet in einer Fabrik in Swerdlowsk und erfindet eine Vorrichtung zur Verbesserung der Produktion. Dann wird ein Arzt verhaftet, der mit ihrem Mann befreundet war, und auch der Direktor ihres Verlags wird festgenommen. Ein Freund ihres Sohnes informiert sie, dass auch ihr geliebter Sohn Kolja seine Freiheit verlor. Sofja hält das alles für ein Missverständnis.
Plötzlich klingelte es und dann noch einmal. Sofja Petrowna ging zur Tür. Zweimal klingeln, das war für sie. Wer konnte so spät noch kommen? Im Türrahmen stand Alik Finkelstein. Alik allein, ohne Kolja, das war nicht normal. »Wo ist Kolja?« schrie Sofja Petrowna und faßte Alik am heraushängenden Schal. »Hat er etwa Unterleibstyphus?« Langsam, ohne sie anzusehen, zog Alik seine Galoschen aus. »Pst!« machte er schließlich. »Wir wollen zu Ihnen gehen.« Auf Zehenspitzen überquerte er den Gang, seine kurzen Beine weit auseinanderspreizend. Sofja Petrowna, ganz außer sich, folgte ihm. »Um Gottes willen, Sofja Petrowna, erschrecken Sie nicht«, sagte er, nachdem sie die Tür geschlossen hatte, »bitte, ganz ruhig, Sofja Petrowna, es liegt wirklich kein Grund vor, sich zu erschrecken. Es ist nichts Schlimmes. Vor-vor-vorgestern.., oder wann war das? Nun, vor dem letzten freien Tag… ist Kolja verhaftet worden.« Alik setzte sich auf das Sofa, löste mit zwei raschen Bewegungen seinen Schal, warf ihn auf den Boden und begann zu weinen.
Jetzt beginnt der Hauptteil des Romans: Sofja Petrownas Suche nach dem Verbleib ihres Sohnes. Vor den Behörden, vor den Behörden, in denen sie Auskunft erhofft, stehen lange Menschenschlangen, die Informationen sind kümmerlich oder ablenkend, irgendwann erfährt sie, dass Kolja verurteilt und deportiert wurde. Grund wird keiner genannt, Mutmaßungen laufen ins Leere und wühlen auf, die Hoffnungen schwinden. Sofjas Kollegin und Freundin Natascha wird aus dem Schreibbüro entlassen – weil sie statt Rote Armee Zote Armee getippt hatte – und nimmt sich das Leben, Koljas Freund Alik wird ebenfalls verhaftet.
Man kennt das aus anderen Romanen, aus Dokumentationen und Geschichtsbüchern. Stalins und des NKWDs Schreckensherrschaft, willkürlich erscheinender Terror, Machtlosigkeit und Verzweiflung der Betroffenen und ihrer Angehörigen. Das Buch erschien bei detebe 2003, seine Aktualität hat sich 2022 noch einmal verschärft. Ein eindringliches Stück russischer Geschichte, ein Bild eines Menschen, einer Familie in einem System undurchdringlicher Repression. Ein System, aus dem Russland anscheinend nicht herausfindet.
Dennis Kelly : Der Weg zurück Inszenierung: Philipp Becker
Sie heißt Dawn. Ihr Vater (Guido Wachter) hat sie so genannt, weil ihre Mutter bei der Geburt gestorben ist. Dawn, die Morgenröte, das steht für Aufbruch, für Fortschritt, für Optimismus. Dawn ist wütend, sie findet sich bei einer Erweckungsbewegung, die sich „Regression“ als Motto und Auftrag gegeben hat. Zurück in die Zukunft!
„Der moderne Glaube an Aufklärung und Fortschritt sei ein Fehler gewesen. Waffen, genetische Manipulationen und technische Innovationen hätten die Menschheit an den Rand des Abgrunds gedrängt. Dies müsse aufhören, koste es, was es wolle! In der sich neu formierenden, »regressionistischen« Gesellschaft sind Technologie und Forschung verboten: Wissen ist Qual, Nichtwissen ein Segen.“ (Schauspiel Köln)
Die Regressionist:innen breiten sich auf der Bühne aus, malen Zeichen auf die Rückwand, bestärken sich in ihren Disputen genseitig, lassen sich von der Technik a-ha einspielen: „Say after me, It’s no better to be safe than sorry.“ (1985! Synthie-Pop) Der Findungsprozess dauert und dauert, jede:r kommt zu Wort, bringt Denk-Schnipsel als vermeintlich eigene Meinung ein, vieles kommt seltsam bekannt vor, auch aus der aktuellen Diskussion um „Aktivist:innen“.
Einig ist man sich in vielem, was abzulehnen ist: Technik, Wissenschaft, Sprache, Kommunikation. Die gemeinsame Wurzel ist die Wut. Autor, Akteure und Zuschauer können nur bedingt entwirren, was ernsthafter Diskurs ist und was unreflektiertes Nachbrabbeln, was persönlich geprägte Strategie, was nebulöses Gestochere. Das Spiel schwankt zwischen ironisierter Mimese und anspruchsvoller Diagnostik. Immer, wenn man nicht weiter weiß, schleicht sich Spiritualität ein oder drängt sich Gewalt auf. Der Zuschauer bemüht sich, nicht einzunicken. Schließlich stellt die Gruppe – eingeschlossen die Dawn der fünften Generation – einen 10-Punkte-Plan vor. „Über die nächsten Generationen hinweg wird aus der Bewegung mehr und mehr eine Diktatur voller Verbote. Schnell brennen Forschungslabore und Universitäten, aus Zweifeln wird radikale Ablehnung. Nichtwissen heißt das neue Ziel und selbst die Sprache soll einfacher werden. Denn komplexes Sprechen fördert komplexeres Denken.“ (Ankündigung)
Man wartet auf ein Ende dieses „nebulösen, durch und durch narrativen und mit szenischen Angeboten kargenden“ Stückes (Christian Rakow, nachtkritik.de) Es folgen noch zwei etwas interessantere Einfälle: Anna Kiesewetter setzt das zunächst abstrakt-regressive Ziel, die Sprache zu entkomplizieren und auf Hauptsätze mit einsilbigen Wörtern zu reduzieren, in die Praxis um. Ihr Sprechen wirkt – auf mich – gar nicht so befremdlich. Ein Seitenhieb auf die sich ausbreitende „einfache Sprache“. Leider will auch diese Frau gar nicht mehr aufhören zu quatschen, immer wieder kehrt sie beim Abgang um. Einmal singen die Regressionisten a capella, wieder das a-ha-Lied. Und ganz am Ende hört man ein paar Gedichtzeilen, die an Hölderlin erinnern. Es ist Hölderlin, aber der Rezitator spricht sehr leise.
Leben will ich denn auch und ihr, Begeisterungen, und all ihr Guten Genien, die gerne bei Liebenden sind; Bleibt so lange mit uns, bis wir auf gemeinsamem Boden Dort, wo die Seligen all niederzukehren bereit, Dort, wo die Musen, woher Helden und Liebende sind, Dort uns, oder auch hier, auf tauender Insel begegnen
Hölderlin! Unverhohlenes Pathos auch hier. Dawn. Aufbruch – vielsilbig. Steht das auch im Original?
„Der Weg zurück“ wird als „Gedankenexperiment“ angekündigt. Bei Gedanken ist es oft so, dass sie tiefsinnig sind, oft täuschen sie echten Gehalt aber auch bloß vor und verbleiben im wortreichen Geschwurbel. Der Unterschied ist nicht immer leicht und schnell zu erkennen. Es kann ja auch sein, dass sich im Schwurbelnden implizit Entlarvung versteckt. Das Stück bildet (zu) viel sprachlich nach und stellt dabei (zu) wenig Fragwürdiges bloß. Da es sich um ein „Experiment“ handeln soll, ist das vielleicht auch egal. Der Text täuscht an. Liefert aber die Spannung nicht mit. Die Explosionen, die Gewalt, die Attentate sind nicht auf die Bühne zu bringen. Das Schau-Spiel bleibt unspektakuläre Andeutung. „Weshalb dieser Kulturpessimisten-Club in den nachfolgenden drei Bildern nicht schon viel eher gestoppt wird, das weiß allein der Autor dieses an beliebigen Setzungen und in unseren Ohren auch schalen Parolen so reichen Stücks.“ (Peter Geiger, MZ) Man wartet auf die Spannung, das Bitterböse (Ankündigung), doch der Abend versandet.
Die Darsteller erhalten den berechtigten Applaus, auch wenn die meisten Rollen (Kathrin Berg, Paul Wiesmann, Johanna Kunze, Jonas Julian Niemann) wenig Möglichkeiten zur szenischen Gestaltung bieten. Schön der vom Schnürboden fallende bestrahlte Nebel.
Theater Regensburg – Aufführung am 23. Februar 2023
Giulia Caminito: Das Wasser des Sees ist niemals süß
Ich rühre mich nicht und begegne dem Blick des Kindes, das ich war, es blickt mich an aus dem zersprungenen Spiegel im Bad und flüstert mir zu: Es gibt kein Zuhause für den, der kein Herz hat.
Das Zuhause ist oft nicht nur der Ort, wo man sein Herz hat, wo man sich geborgen fühlt, wo man sich sicher ist, dazuzugehören. Das Zuhause ist ein sozialer Platz, die Familie, die Freunde, mögliche Partner, Menschen, die man mag und die einen respektieren.
Gaia, das Mädchen, kämpft sich durch ihre Kindheit, ihre Jugend, die Schule, sie ficht um Freundinnen und Freunde. Sie kämpft, bis sie ihren Eingang ins Leben findet, bis sie die Position findet, in der sie Leben mag. Als sie nahe dran ist, als sie die Tür zu „ihrem“ Leben vor sich sieht, schafft sie es nicht durchzugehen. „Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet … bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Franz Kafka, der „Türsteher … vor dem Gesetz“. Gaia ist ein Mädchen, ein junges, aber wie bei Kafka ist es sie selbst, die sich den „Eintritt“ versagt. Sie kommt nicht „vom Lande“, sie ist in eine soziale Schichte, eine soziale Familienumgebung hineingeboren, aus der sie nicht herausfindet, aus der zu entkommen ihr niemand hilft. Und natürlich hat sie immer Angst vor dem, was eine hinter der Tür erwartet, Angst, den Anforderungen nicht zu genügen, und sie ist wütend auf alle und alles, was einer den entscheidenden Mut nimmt. Wütend also zu allererst auf sich selbst. Dazu kommt die Projektion, deren zentrales Objekt des Abreagierens die Mutter ist. Aber die Wut ist verschoben: Nicht die Mutter wird gehasst, die Person, die sie zum Lernen gedrängt hat, sondern die, die die eigene Schwäche thematisiert.
Ich besitze wenige Dinge, aber diese wenigen werden verhindern, dass ich meiner Mutter ähnlich werde, meiner Mutter, der Übergangenen, der Arbeiterin, der Tellerwäscherin, er mit dem auf dem Flohmarkt gekauften Leinenkostüm, das sie angezogen hat, um zu scheinen, was sie nicht ist. Ich muss schnellstmöglich aufhören, das fehlerhafte Kind zu sein, und mich in eine Frau verwandeln, in die man sich verlieben kann. Diese Verwandlung kitzelt und lockt mich, ich stürze mich kopfüber in den krankhaften Wettbewerb der Körper und Blicke.
Sie sorgt dafür, dass ich mich ungenügend fühle, gescheitert, gefallen, mich fühle wie ein zerbrochenes Getriebe, eine um sechs Uhr früh stehengebliebene Pendeluhr, wenn es mittlerweile tiefe Nacht ist: von der Rolle, blöde, ich weiß nicht, wo ich suchen soll, ich weiß nicht, wen ich fragen soll, wie ich mich arrangiere, warum ich mich nicht arrangieren kann, ich kann nur darauf warten, dass meine Mutter die Dinge arrangiert.
Mein Leben ist nicht ihr Leben, mein Leben ist meins, mein Leben steht mir zu, ich baue es auf, und ich zerstöre es, da reagiere ich, wie eine Marionette, die mitsamt dem Plankton vom Wal verschluckt wird, springe ich auf und strample, um ins Meer zurückzukehren, aufzutauchen, auf Sicht zu navigieren, ich werde dieser Behauptung nicht zum Fraß vorgeworfen werden, ich werde nicht in ihren Schlund aus Lauten und Sätzen fallen. Wutentbrannt sehe ich sie an und stehe vom Stuhl auf, als ob mich etwas zwischen den Schenkeln gestochen hätte, das Stechen steigt hoch und kriecht in die Unterhosen, ich spanne die Pobacken an und versuche es zu vertreiben, aber dieses unangenehme Gefühl ist schon in meinem Innern, baut ein Wespennest: unser Leben, unsere Situation, unser Dach, unser Geschirr, unsere Zukunft, unser Einkauf fürs Mittagessen, unser Geld, das fehlt.
Mein Leben ist nicht dein Leben, brülle ich lauthals, ich brülle aus meinem tiefsten Innern, aus meinem kleinen Ich, aus den feuchten Eingeweiden, und ich spüre, wie unser Boden sich auftut, Bäume abstürzen — Erdrutsche und Krachen —, mein Gesicht ist warm, die Haare elektrisch geladen, die Beine kribbeln, und da ist ein Wesen in mir, ein wütendes, niederträchtiges, das keine Selbstbeherrschung mehr erträgt.
„Das Wasser des Sees ist niemals süß“ ist ein eindringlicher Roman über soziale Zugehörigkeit und – natürlich nicht nur – daraus resultierend psychische Deformationen. Gaias Familie lebt beengt in einer Kellerwohnung in Rom. Sie können die Wohnung gegen eine größere in einem „besseren“ Viertel tauschen und ziehen dann in eine Sozialwohnung in Anguillara Sabazia am Lago di Bracciano. Der Vater verbringt seit einem Arbeitsunfall sein Leben im Rollstuhl, der ältere anarchistische Bruder Mariano zieht bald aus, die kleinen angepassten Zwillinge – „und die Mutter Antonia, die so zupackend wie rücksichtslos alles zusammenhält. Ihre Tochter, blass, sommersprossig, dürr, soll nicht so enden wie sie, Bildung soll der Ausweg für Gaia sein. Doch die erkennt früh, dass Talent und zwanghafter Fleiß nicht ausreichen, um mitzuhalten – wenn man kein liebes Mädchen sein will, den filzstiftgrünen Pullover des Bruders aufträgt und sich kein Handy leisten kann. Konfrontiert mit Herabsetzungen, Leistungsdruck und Orientierungslosigkeit verwandelt sich Gaias stumme Verletzlichkeit in maßlose Wut, die sie zunehmend Grenzen überschreiten lässt“. (Klappentext) Vielleicht hat sich Gaia das falsche Rollenmodell ausgesucht, vielleicht ist sie ein starkes Mädchen, wie wir es noch immer kaum gewohnt sind.
Für Gaia gibt es nur zwei Momente der relativen Zufriedenheit: als sie am Schießstand des Jahrmarkts einen großen rosa Bären gewinnt. „Ich will den Preis, sage ich und strecke die Arme aus. Ich bin bereit, die ganze Welt zu umfassen, das ganze Universum.
Sie dreht sich mühsam um und holt den zwei Meter großen Bären aus der Bude, sie verschwindet hinter ihm, sie weiß nicht, wie sie ihn mir übergeben soll, ich weiß nicht, wie ich ihn annehmen soll, er ist fast doppelt so groß wie ich, er ist eine belebte Figur, ein Koloss. Sie setzt ihn vor mir am Boden ab und sagt: Gratuliere.“ Und bei der Feier ihres Abiturs am See. „Ich hüpfe im Wasser herum und löse die Haare, ich schüttle sie, ich habe straffe Schenkel und zierliche Waden, ich bin blass, und die rote Mähne sieht aus wie ein Blutfleck vor dem Himmel, all diese unerwartete Schönheit fließt in meinen Adern, die Freude, bekommen zu haben, was ich wollte, ohne mich verbiegen zu müssen, ohne mich zu prügeln, ohne zu stoßen und die Ellbogen einzusetzen, jetzt habe ich etwas, womit ich prahlen kann, und die Gewissheit, dass ich gefalle, jedem, der mich ansieht, gefalle ich sehr.“
Doch auch in diese Momente der Euphorie mischt sich das Unvermögen, mit den eigenen Emotionen umzugehen. Das Hochgefühl muss herausgeschrien werden und wirkt in der Übertreibung unecht, verrät die Unsicherheit. „Es ist süß, es ist zuckersüß, dieses Wasser, dieser Sumpf, es hat den Geschmack von Kirschen, von Clementinenmarmelade, von Marshmallows, das Wasser des Sees ist immer süß, brülle ich aus Leibeskräften. Und noch einmal: Das Wasser des Sees ist immer süß. Brülle ich aus Leibeskräften.
Im Literarischen Quartett des ZDF entwickelt sich ein heftiges Scharmützel zwischen Vea Kaiser, die den Roman vorstellt („ein großartiger Roman“), und Deniz Yücel, Sprecher des PEN Berlin. Yüzel, aufgebracht: „Dieser Roman ist wirklich schlecht … Dieser Roman ist keiner, er erzählt nämlich nicht“. Er zitiert Beispiele, wie ein 15-jähriges Mädchen nicht denkt und redet: „Meine Eltern haben schon seit langer Zeit keinen Sex mehr. Sie sind sich ferner denn je und dabei Partisanen ihrer identischen und doch gegensätzlichen Schmerzen.“ Yüzel: „Das ist manieristisch, das ist gewollt, das ist bemüht.“ Aber hier erzählt kein junges Mädchen, hier erzählt eine Frau, die Philosophie studiert hat, die aus ihrer jetzigen Position zurückblickt, die Verhältnisse überblickt. Das ist die Leistung des Romans: das Springen zwischen Perspektiven, zwischen Zeiten. Der Rückblick weitet sich vom innerfamiliären Gewurschtel über die prä-pubertären rosa Groß-Bären-Abenteuer und die frühen Freund:innen-Geplänkelgymna zu Elementen der Einordnung und sozial-politischen Auseinandersetzungen. Giulia Caminito erzählt viel und detailliert und nahe an den Personen, vieles aus dem all-täglichen Erleben, viele genaue Beobachtungen aus den Körpern, den Wohnungen, aus den Dörfern, vom See. Die große Welt wird karg angedeutet, der Bruder, der sich als Anarchist fühlt und an den G8-Protesten in Genua teilnimmt, 9/11 als Zeitmarke. Gaia steht als Erzählerin außerhalb und fühlt sich doch in die Protagonistin (hin)ein. Ihre Sprache schöpft die Bilder aus dem Empfinden der Person. Diese Ambiguitäten scheint Yüzel nicht zu verstehen. Im Nachwort schreibt die Autorin: „Dies ist keine Biografie, keine Autobiografie und auch keine Autofiktion, es ist eine Geschichte, die sich Bruchstücke vieler Leben einverleibt hat in dem Versuch, aus ihnen eine Erzählung zu machen, die Erzählung jener Jahre, in denen ich aufgewachsen bin, der Schmerzen, die ich nur umschifft habe, und denen, die ich durchlebt habe.“
Was ich jahrelang gemacht habe: mir den Klatsch über den Hausmeister der Schule anhören, der die Schülerinnen angafft, den über die hässlichen schnurrbärtigen Zwillinge, die immer zu zweit unterwegs sind und sich den albanischen Freund teilen, über den Tankstellenwart, der das Benzin mit Wasser streckt und deshalb billiger verkauft, über das Mädchen, das im Ausland Internationales Recht studiert hat, aber Unglück bringt und die Geliebte eines verheirateten Mannes ist, über den Typen, der junge Mädchen schwängert und sie dann sitzenlässt und nicht einmal die Namen seiner Kinder kennt, über die Kellnerin in der Bar, die magersüchtig geworden ist und bei der man schon die Wangenknochen sieht, über die beiden Heranwachsenden, die auf dem Motorroller verunglückt sind, ohne Helm und an einem Regentag, darüber, wie fett die geworden ist, die mal die Schönste im Ort war — du heiratest sie, und dann lassen sie sich gehen, legen am Arsch zehn Kilo zu —, den Klatsch über meine tote Freundin, die sich erstickt hat, sich erstickt hat, die sich erstickt hat, deine Freundin, deine tote Freundin, die sich erstickt hat, immer alles in der Hoffnung, dass nicht ich als nächste dran bin.
Was ich jahrelang gemacht habe: auf Revolutionen warten, auf Lawinen, Kettenreaktionen, die zuletzt meinen Aufstieg bewirken, die Eröffnung unendlicher Möglichkeiten.
Was ich jahrelang gemacht habe: bleiben, wo ich war, selber Ort, selbe Zeit, selbe Rolle, selbes Gesicht, und darauf warten, dass ich volljährig bin, so wie man auf das Eintreten einer Prophezeiung wartet, das Aufziehen eines Sturms, den Fall einer Mauer.
Das Cover zeigt ein entflammtes Zündholz zwischen en Lippen einer Frau, darübermontiert: Tropfen. Dazu noch einmal Yüzel: „Das Cover steht sinnbildlich … Ein Streichholz, das man so hält, wie eine Zigarette, Wasser auf dem Gesicht, aber ein Streichholz mit Wassertropfen!?“ Er sieht die Widersprüchlichkeit, erkennt darin ein „Sinnbild“, versteht aber nicht, dass dieser Antagonismus den Zwiespalt der Person reflektiert, die schnell entzündbare Wut und die moderierende Wirkung des Wassers. Das ist die Normalität des Lebens. (Übrigens: Auf dem Original-Cover sitzt eine junge Frau nachdenklich auf ihrem Bett, die Füße stehen im verschmutzten Seewasser – Fische eingeschlossen, das den Fußboden bedeckt. Ein leichter zu deutendes Symbol, das die soziale Komponente betont.)
Man kann sich über Gaia ärgern. Alle und alles sieht sie gegen sich verschworen. Der soziale Aufstieg, den sie sich erlernen wollte, gelingt nicht, weil sie sich am Schluss das falsche Studienfach wählt, das keine Berufsperspektive öffnet.
Luciano hat keine seiner Aufgaben erfüllt, er ist blass, still, leblos gewesen, er hat mir keinen Glanz verliehen, wenn überhaupt nur sehr selten, er hat meinen Status nicht erhöht, hat mich nicht an seinem Reichtum teilhaben lassen, ich bin die ganze Zeit über geblieben, wo ich war, keinen Millimeter vor und keinen zurück.
Ich habe mir ein Gymnasium für Reiche ausgesucht, das ist eine Sanktion, ein tiefer Schnitt, ein Erstickungsversuch. Ich habe mir eine schwierige Schule ausgesucht, an der tote Sprachen unterrichtet werden, und ich sage mir, ich hätte das wegen meiner Freundinnen getan, sie gehen dorthin und ich auch, aber die Wahrheit ist, dass ich eine ganz, ganz winzig kleine Sache in mir trage, eine Eichel, ein Insekt, und das ist die Stimme meiner Mutter, der ich beweisen muss, dass ich etwas tauge.
Dieses Wir, das dort unsichtbar im Raum steht, beherrscht mich, erschafft für mich Luftschlösser und Sümpfe.
Sasha Filipenko wurde 1984 in Minsk geboren, er schreibt auf Russisch. 2020 musste er mit seiner Familie Russland verlassen und lebt in der Schweiz. „Die Jagd“ handelt von einem Journalisten, der zum Verlassen seines Landes gedrängt werden soll. Der Roman ist „musikalisch“ komponiert in Sonatenform, mit Hauptsatz, Seitensätzen, Reprisen und Coda sowie Pausen. Das ist ein Kunstgriff, der den Text portioniert, episodenhaft ausbreitet, seine Struktur in der Verschränkung aber nicht einfacher durchschaubar macht. Man braucht beim Lesen oft viele Seiten, um sich das Gefüge der Komposition zu erschließen. Bei diesem Roman ging’s mir überdies so, dass ich erst nach einem Drittel der Seiten erfasste, was hier „gejagt“ wurde. „Aus den Stimmen von Jägern und Gejagtem setzt sich die Geschichte einer Menschenjagd mit fatalen Folgen zusammen.“ (Klappentext) Die Verfolgung wird in Sonatenart umspielt und aus den „Stimmen“ kristallisiert sich erst auf Seite 149 das Halali der Jagd heraus: »Wir machen ihm das Leben zur Hölle!«
»Gibst du ihm einen zweiten russischen Pass, oder was?« »Nein, im Ernst! Wenn wir wollen, dass er auswandert, dann müssen wir nur dafür sorgen, dass sein Leben hier unerträglich wird.« »Willst du dafür sorgen, dass er ständig ins öffentliche Krankenhaus muss?« »Ich weiß noch nicht, geben Sie mir ein paar Tage!«
PAUSE
Die Jagd auf Anton Quint ist eröffnet. Quint ist Journalist, ist jung, ist ethisch motiviert und er „enthüllt“, was er für verwerflich hält, etwa die skrupellosen Machenschaften des Oligarchen Wolodja Slawin. („Wladimir Slawin scheint das System Putin zu symbolisieren. Das geradezu klischeehafte Dolce Vita der Familie von „Onkel Wolodja“, Kerstin Holm , FAZ) Solche ‚Verräter und Saboteure‘ sind in Russland (und auch in Belarus) nicht gerne gesehen und so beschließen die enthüllten Bonzen und ihre Hinter- und Nebenmänner aus Journaille, Wirtschaft und Politik, Anton Quint fertigzumachen. Das heißt zunächst: ihn außer Landes zu vertreiben. (Was in besagten Ländern eine eher humane Bestrafung ist.) Allerdings sind die eingesetzten Mittel in eigentlicher Banalität brutal, die Hatz ist im Roman zentrales und breit geschildertes Thema.
Um das Opfer in die gewünschte Richtung – den Wahnsinn – zu treiben -, muss der Druck überrumpelnd, aber moderat beginnen und dann erhöht werden. „Wir steigerten den Druck. Poco a poco. Von piano zu forte, jeden Tag mehr.“ Ich als Leser darf – oder muss – mich auf der Seite der Jäger einfinden. Es ist ja einer der ihren, der erzählt. Auf der einen Seite steht die beschworene Bewunderung über die Raffinesse der Hatz. Dazu gesellt sich das Überlegenheitsgefühl, weil sich die Quäler so abgefeimter – wie abgedroschener – Methoden bedienen. Ich bin ja unmittelbar an der Besprechung der Erfolge, auch der Schwierigkeiten, auch der angedeuteten, aber erfolgreich außer Acht gelassenen Skrupel beteiligt.
Was sagst du da von seiner Frau?« »Ich hab daran gedacht, sie zu vergewaltigen.« »Spinnst du komplett?!« »Okay, ich werde sie nicht bumsen. Nur so ein bisschen mit dem Schwanz rummachen, und fertig.« »Das machst du nicht!« »Dann vielleicht lieber du?« »Nein!«
Auf der anderen Seite will ich natürlich auch nicht mit Schuld tragen an der Tortur des Opfers. Sasha Filipenko legt dieses Wechselspiel im Leser nicht ungeschickt an. Dennoch wirkt das Hinschreiben auf die „Kulmination“ absehbar. Es ist klar, wer gewinnt, und es ist klar, dass dem „Sieger“ jede Legitimation fehlt, dass er nur für den eigenen Vorteil und sein eigenes Überleben agiert.
Der dritte große Teil der Sonate. Bleibt nur zu hoffen, dass Sie bereit sind …‘ Wir können nun zur Kulmination übergehen. Kindheit, Schule, Vaters Tod. Umzug in einen neuen Wohnblock, Arbeit, Ehe. Wir sind endlich hier, am Zenit, angekommen. Der Höhepunkt der Sonate, der Gipfel der Spannung. Gerade noch hatten wir naiv angenommen, dass alles gut ausgehen würde. Oder nein, eigentlich nicht. Wenn ich ehrlich bin, habe ich über die Konsequenzen gar nicht groß nachgedacht. Es kommt, wie es kommen muss, dachte ich.
Der Kern des Romans ist- das verheißt schon der Titel: Trawlja (Die Hetzjagd ist ein grausames Spektakel, bei dem Hunde auf einen angebundenen Bären losgelassen werden und ihn am Ende zerfetzen.) – die Menschenjagd. Filipenko beschreibt vergnüglich-maliziös das Grauen in seinen Eskalationsstufen. Es beginnt mit der verklebten Wohnungstür, verfällt auf die Angst vor Hunden (!), beschallt mit dröhnender Musik die Wohnung Quints, diskutiert die Vergewaltigung der Frau („Ob es dir gefällt oder nicht, du musst es dulden, meine Schöne“, V. Putin) und streut das Gerücht der Pädophilie des Gejagten. Damit ist nicht das politische System erklärt, aber ein Aspekt des „System Putin, das uns nun auch außenpolitisch als brutalst-möglicher kriegerischer Aggressor vor Augen tritt, mit seiner systematischen Zerstörung allen zivilgesellschaftlichen Lebens, insbesondere der Pressefreiheit. Der Roman kreist um einen Investigativjournalisten (wie in Realität Alexej Nawalnyi oder Juri Dmitrijewdem) auf Oligarchenjagd, der schließlich selbst zur Beute wird.“ (Dieter Bach) „Diese ewige Infantilität, auch die der russischen Intelligenzija, fing nicht erst jetzt an. Es handelt sich um den Unwillen, ein Problem zu sehen, den Unwillen, Verantwortung zu übernehmen. Ich glaube, dass Leben deshalb es in Russland auch in den 1990er-Jahren nicht gelungen ist, etwas zu verändern, und auch in den 2000ern nicht mit den Protesten. Erinnern Sie sich noch, wie es damals die ganze Zeit „nur ohne Gewalt, nur ohne Blutvergießen“ hieß? Das Ergebnis ist totale Gewalt und schreckliches Blutvergießen.“ (Wladimir Sorokin)
Sasha Filipenko bereitet die Hetzjagd in vielen Sätzen vor, er skizziert das System, das sich selbst in Aporien versenkt, aus dem es nur gewaltaffine Auswege bieten kann. Im zweiten Teil, der Aufführung der „Jagd“, gewinnen die Ereignisse Rasanz, drängen sich selbst voran, wobei das Interessante nicht die Action ist, sondern Filipenkos Spiel mit trügerischer Sprache und geduldetem Denken, sein Flirren zwischen den Positionen von Opfer und Tätern. „Die Jagd“ ist weniger politischer oder historischer Roman als Drehbuch für einen systemerhellenden, in den vorgestellten Methoden aber doch schon bekannten Film.
Er war zwar kein Chemiker, er war ein Hund, aber auch als Hund erkannte er eine dauerhafte Bindung auf den ersten Blick.
Elizabeth Zott ist Chemikerin. Das wäre an sich nicht schlimm. Von heute aus betrachtet. Aber Miss Zott betont es in allen Situationen, versteift sich gar darauf. Sagt es bei unpassend erscheinenden Gelegenheiten, etwa beim Kochen. Sogar ihre Küche sieht aus wie ein Labor: „Roth klappte vor Verwunderung der Mund auf, als er sich den Raum ansah, der mal eine Küche gewesen sein musste. Jetzt sah er aus wie eine Kreuzung aus OP-Saal und Gefahrstofflager.„
»Es war eine unsymmetrische Ladung«, erklärte sie und schob noch irgendetwas über die Trennung von Flüssigkeiten basierend auf deren Dichte nach, während sie auf ein großes silbernes Ding zeigte. Zentrifuge? Er hatte keine Ahnung. Er öffnete sein Notizbuch wieder. Sie stellte einen Teller Kekse vor ihm auf den Tisch. »Das sind Zimtaldehyde«, sagte sie.“
Elizabeth Zott ist eine attraktive Frau. Äußerlich. (Auch wenn sie Hosen trägt!) Innerlich reißt sie alles wieder ein, denn sie ist eine dezidiert rationale Frau. Mit ihrer entschieden spröden Art irritiert sie ihre Kontaktpersonen. Es ist ihr nicht wichtig, nett, angepasst zu sein, sie will keine Kompromisse machen, die schlecht für die Benachteiligten sind. Die Benachteiligten sind in den USA der 50er-Jahre: die FRAUEN. Das ist natürlich nicht nur zu dieser Zeit und an diesem Ort so, aber im Rückblick von heute aus war das so arg, dass man sich auf einen anderen Planeten gebeamt fühlt. (Obwohl ?)
Elizabeth Zott lächelt drei Mal im Roman. „»Lächeln?«, hatte Elizabeth erwidert. »Lächeln Chirurgen während einer Blinddarmoperation?“ Sie hat aber auch nichts zu lachen. Im Chemischen Institut in Hastings veröffentlich der Fachbereichsleiter ihre Forschungsergebnisse als seine eigenen, nachdem er sexuell übergriffig geworden ist. Als sie gefeuert wird, nachdem ihr beruflicher und privater Partner gestorben ist, verunglimpft er sie beruflich und als Person (Frau). Im Amerika der 50er-Jahre ist die Rolle der Frau festgeschrieben: Hausfrau und Mutter – Kinder, Küche, Kirche. Elizabeth Zott reagiert idiosynkratisch gegen alle drei. Sie will ihren Partner nicht heiraten, weil sie sonst nicht nur ihre Selbstständigkeit verlöre, sondern auch ihren Namen: Aus Elizabeth Zott würde sie zu Mrs Calvin Evans. Die Kirche verteidigt dieses System an vorderster Front. Elizabeth Zotts ganzes Denken ist wissenschaftlich angelegt, sie bezeichnet sich als öffentlich Atheistin, in ihrer Überzeugung meint das Humanismus.
Bonnie Garmus stellt der kühl berechnenden Frau Dialogpartner zur Seite. Im Gespräch mit Reverend Wakely kann sie sich über Gott austauschen. „Glauben Sie nicht, dass es möglich ist, sowohl an Gott als auch an die Wissenschaft zu glauben?«
»Sicher«, hatte Calvin zurückgeschrieben. »Das nennt man intellektuelle Unaufrichtigkeit.« Calvins Schnodderigkeit, die schon oft viele Menschen verärgert hatte, schien dem jungen Wakely nichts auszumachen. Er schrieb umgehend zurück. »Aber Sie werden doch gewiss einräumen, dass das Gebiet der Chemie nicht existieren könnte, wäre es nicht von einem Chemiker — einem Meisterchemiker — erschaffen worden«, hielt Wakely in seinem nächsten Brief dagegen. »Genau wie ein Gemälde nicht existieren kann, solange es nicht von einem Künstler erschaffen wurde.« »Ich befasse mich mit evidenzbasierten Wahrheiten, nicht mit Spekulationen«, antwortete Calvin prompt. »Daher, nein, Ihre Meisterchemiker-Theorie ist Schwachsinn.“
Das stammt zwar aus dem Briefwechsel ihres Partners Calvin Evans, entspricht aber auch Elizabeths Denken.
Dann ist da Harriet, ihre Nachbarin und Haushaltshilfe, eine verständnisvolle und sorgende Frau, die sie in ihre Privatsphäre lässt und der sie zur „Selbstermächtigung“ gegen ihren rabiaten Ehemann verhilft. Die früh- und hochbegabte Tochter Mad (eigentlich Madeline) sucht ihrerseits den Zuspruch, sie argumentiert wie eine Erwachsene, in der Schule ist sie völlig unterfordert, ihr Lieblingsort ist die Bibliothek.
Und, ein Schmankerl des Romans, da ist noch der Hund. Halbsieben. (Six-Thirty). Halbsieben ergänzt Elizabeth Zott in emotionaler Hinsicht. Der Familientherapeut. Er spürt, wenn die Personen, ob Mutter oder Tochter, Anlehnung suchen, er übernimmt Aufgaben, holt z.B. Mad (die er für sich „das Wesen“ nennt) von der Schule ab, er kennt Hunderte von Wörtern.
Halbsieben stand auf und trabte ins Schlafzimmer. Unbemerkt von Elizabeth hatte er kurz nach Calvins Tod damit begonnen, Hundekekse unter dem Bett zu bunkern. Nicht, weil er fürchtete, Elizabeth könnte vergessen, ihn zu füttern, sondern weil auch er eine wichtige chemische Entdeckung gemacht hatte, nämlich die, dass Essen half, wenn er es mit einem ernsten Problem zu tun hatte. (…) Wie wär’s denn, das Baby nach irgendwas aus der Küche zu nennen? Topf Topf Zott. Oder aus dem Labor. Pipette Zott. Oder vielleicht etwas in Richtung Chemie — vielleicht eine Abkürzung wie, na ja, Chem? Oder besser Kim. Wie Kim Novak, seine Lieblingsschauspielerin in Der Mann mit dem goldenen Arm. Kim Zott. Nein. Kim war ihm dann doch zu kurz. Und dann dachte er: Wie wär’s mit Madeline? Elizabeth hatte ihm Auf der Suche nach der verlorenen Zeit vorgelesen. Er konnte es eigentlich nicht weiterempfehlen, aber eine Stelle hatte er verstanden. Die Stelle mit der Madeleine. Dem Keks. Madeline Zott? Warum nicht? »Was hältst du von dem Namen >Madeline<?«, fragte Elizabeth ihn, nachdem sie rätselhafterweise Proust aufgeschlagen auf ihrem Nachttisch gefunden hatte. Er sah sie an, sein Gesicht ausdruckslos.
Das ist arg fabulös. Aber Halbsieben ist eine Stellvertreterfigur, da kann man das – nach anfänglicher Irritation – schon mal durchgehen lassen. Manchmal ufern die Diskussionen etwas aus: über das Mensa-Essen oder übers Rudern müsste man nicht so viel sprechen. Es zeigt sich aber, dass die vertretenen Positionen noch gebraucht werden, um das Bild von Elizabeth Zott abzurunden. „Eine Frage der Chemie“ ist ein Roman, in dem wir Frauen lesen können, wie „erfolgreich“ die „Emanzipation“- bei allen Einschränkungen – war und in dem wir von Elizabeth Zott ohne Unterlass und mit Nachdruck auf unsere Pflicht zur Eigenständigkeit erinnert werden. „Eine Frage der Chemie“ ist aber auch ein Roman für uns Männer, denn er zeigt uns, was für Arschlöcher Männer waren und sein können, wenn man sie lässt. Was für ein Glück, dass das heute ganz anders ist. 😉
Fast vergessen: Nach ihrem Rauswurf aus dem Chemielabor wird Elizabeth Zott: Fernsehköchin! In ihrer täglichen Show „Essen um sechs“ kocht sie nicht nur kompetent, sondern gibt den Zuschauerinnen auch Lebenshilfen und ermuntert sie zum Selbstdenken und zur Infragestellung ihrer tradierten Rolle. Das Publikum reagiert fasziniert, obwohl Elizabeth Zott auch das Kochen als Chemie verkauft. »Die Kartoffelschale«, dozierte Elizabeth zehn Minuten später, »besteht aus suberinisierten Phellemzellen, die die äußere Schicht des Knollenperiderms bilden. Sie stellen die Schutzstrategie der Kartoffel dar ...« (…)
»Fordern Sie sich heraus, Ladys. Nutzen Sie die Gesetze der Chemie und verändern Sie den Status quo.« »Denn wenn Frauen Chemie verstehen, begreifen sie zunehmend, wie alles zusammenwirkt.« »Dürfte ich Ihnen eine Frage stellen?«, sagte er höflich und zeigte ihr seinen Presseausweis. »Was gefällt Ihnen so an dieser Sendung?« »Dass ich ernst genommen werde.« »Nicht die Rezepte?« Sie sah ihn fassungslos an. »Manchmal denke ich«, sagte sie langsam, »wenn ein Mann einen Tag als Frau in Amerika verbringen müsste, würde er gerade mal bis Mittag überleben.« Die Frau auf seiner anderen Seite tippte ihm aufs Knie. »Macht euch auf einen Aufstand gefasst.«
„Eine Frage der Chemie“ ist auch Stoff für Hollywood. Sehr amerikanisch, Elizabeth Zotts Rigorismus wirkt nur im Rückblick radikal, ihre Bekundungen und Appelle sind so allgemein formuliert, dass die heute kaum Anstoß erregen dürften, und wir können uns beim Lesen prima fühlen.
Danksagung: „Meine große Zuneigung und Dankbarkeit geht an alle meine Ruderteam-Kameradinnen von Green Lake und Pocock in Seattle. (…) Zu guter Letzt danke ich meinem Hund Friday, von uns gegangen, aber unvergessen, und dem allzeit stoischen 99.“
»Ich habe Sie mit hierhergenommen«, sagte sie zu Roth, »weil ich möchte, dass Ihre Leser eines verstehen: In Wirklichkeit bin ich keine Fernsehköchin. Ich bin Chemikerin. Eine Zeit lang habe ich versucht, eines der größten chemischen Rätsel unserer Zeit zu lösen.« Sie begann, mit offensichtlicher Begeisterung die Abiogenese zu erklären, von der sie mittels präziser Beschreibungen ein umfassendes Bild malte.
„Eine Frage der Chemie“ landete 2022 auf Platz 1 der Liste der meistverkauften Bücher in Deutschland. 2023 wird bei Apple TV+ in Serie „Lessons in Chemistry“ ausgestreamt.
Knut Cordsen: Die Weltverbesserer. Wie viel Aktivismus verträgt unsere Gesellschaft?
„Das Jahrhundert des Aktivismus“ beginnt nicht mit den Klimaklebern. Knut Cordsen hat sich eine detaillierte Übersicht verschafft über das Treiben von Leuten, die nicht auf die zähe Reform von privaten und Welt-Angelegenheiten warten wollen (oder können), sondern ihren Idealen nur im Jetztgleich eine Chance auf Realisierung geben müssen. Das meint „Aktivismus“ und Knut Cordsen offenbart schon im Untertitel seine verhaltene Sympathie: „Wie viel Aktivismus verträgt unsere Gesellschaft?“ (Könnte da nicht auch ‚braucht‘ statt ‚verträgt‘ stehen?) Eine Prise davon will er ihr wohl zugestehen, zu viel will er aber nicht erlauben, sonst, so heißt das, könne „unsere“, also auch seine Gesellschaft, darunter leiden. „Jesus! Wird da der eine oder andere ausrufen, geht es denn nicht ein paar Nummern kleiner?“
Als Urvater des Aktivismus zieht Knut Cordsen Kurt Hiller durchs Buch.
Der Resolutionär Hiller, dessen »kraftschreierische« Prosa der marxistische Philosoph Georg Lukäcs später zu Recht in ihrer »blechernen Monumentalität« als »fanfarenhafte Überheblichkeit« brandmarkte, machte hier einmal nicht den Fehler, »von der Wirklichkeit wegzuabstrahieren« (Lukäcs), sondern zu benennen, was sein sollte. Der verabschiedete »Vorläufige Dogmenkatalog des Aktivismus« ist ein eindrucksvolles Dokument anti-demokratischen Denkens. Das Ziel war klar für Hiller: »Herrschaft des geistigen Typus über den Pöbeltypus«. Deshalb ist 1919 auch eine der »drei Hauptforderungen aktivistischer Politik« neben Pazifismus und Sozialismus (»Man kann nicht Aktivist sein, ohne Sozialist zu sein.«) — »Aristokratismus«. Der »Weltbesserer« hält sich für etwas Besseres und formuliert also in unverhohlener »Vonobenherabheit« (Hiller) seine Abscheu vor allem »Demokratismus (Ochlokratismus)«. Snobistisches verachtet »Mobistisches« (auch so eine Hiller’sche Wortkreation, an Neologismen mangelte es ihm wahrlich nie).
Ausgehend von dieser kritisch betrachteten Basis führt Cordsen durch ein ganzes „Florilegium“ von Aktivist:innen. Von öffentlichen Strickerinnen („selbstgestrickte pinke Pussy Hats“ – Knut Cordsens Kommentar ist typisch ironisch“: „rosafarbene Wolle wurde knapp“), weiter zur Solo-Aktivistin („im Dürre-Sommer 2018“) Laktivistinnen bis zu Peter Handke: „Ein friedliches in-sich-Schauen: der ideale Aktivist“. Cordsen mischt sich in den Streit zwischen Journalisten und Aktivisten: Darf der Journalist Stellung beziehen, zur Tat aufrufen? Karl Kraus vs. Egon Erwin Kisch, die Spur führt zum Blogger Rezo, „rund hundert Jahre später“ zur Zerstörung der CDU aufrief.
Weitere Kapitel fragen nach Sympahisanten oder Gegner des Aktivismus in der Kunst:
„Was tun, sprach Beuys. Über Artivismus“ – oder der Wissenschaft: „Der Gelehrte als Gefährte“. Neben Phasen aktivistischen Glimmens sind einige Momente der Zeitgeschichte hervorgehoben, in denen der rigorose Idealismus aufflackerte: etwa die „Studentenrevolte 1968“. Cordsen erhellt die Auseinandersetzungen zwischen Ernst Bloch, Rudi Dutschke, Jürgen Habermas (‚infantile Scheinrevolution‘), Hans Magnus Enzensberger (»Die Moralische Aufrüstung von links kann mir gestohlen bleiben. Ich bin kein Idealist. Bekenntnissen ziehe ich Argumente vor. Zweifel sind mir lieber als Sentiments. Revolutionäres Geschwätz ist mir verhaßt.« Cordsen: „So redet ein unabhängiger Geist. Kein Akivist.“
Knut Cordsen im Interview: „Ich glaube, den liberalen Aktivismus. Einen, der kritikfähig ist, der seine Ziele nicht doktrinär verfolgt und Andersdenkende nicht ausgrenzt. Er muss offen bleiben und darf nicht „grimmig“ werden, wie Karl Raimund Popper es mal genannt hat.
Cordsen hätte gerne einen Aktivismus light, eine Radikalität à la SPD, einen, der bei Widerständen mit sich reden lässt, einen Aktivismus, der keiner mehr ist. Trotzdem sind die „Weltverbesserer“ informativ, subjektiv, mit „unabhängigem Geist“, ironisch engagiert. Schön zu lesen.
Jens Balzer: Schmalz und Rebellion. Der deutsche Pop und seine Sprache. Von den 50er-Jahren bis heute
Vielleicht ist es nur dann oder dann besonders interessant, wenn man die beschriebene Zeit miterlebt hat und die Texte mitsummen kann. Von den 50er-Jahren bis heute. Jens Balzer ist 1969 geboren, hat sich den „deutschen Pop und seine Sprache“ der Frühzeit indirekt einverleibt.
Einverleibt hat sich der deutsche Schlager auch die „Rebellion“: Das „Fernweh“ gründete auch bei Freddy Quinn auf der „Heimat“, den Rock’n’Roll nationalisierte Peter Kraus und das spätere Schlager-Englisch verlor durch Unverständnis oder durch verschmalzende Harmonien jegliches Protestpotential. „Liedermacher und Rocker entdeckten das Deutsche wieder“, ihre Resonanz war aber eher bescheiden und blieb in der Blase.
»In der Bar sah ich Lou / Und war verliebt im Nu / Denn so einen Swing, den gab’s noch nie / Kein Mädel rockt und rollt wie sie.« Wobei die überwiegende Mehrheit des deutschen Publikums weder verstanden haben dürfte, dass »rocken und rollen« als Synonym für den Geschlechtsverkehr diente, noch dass »tutti frutti« eine Bezeichnung für große prächtige Frauenbrüste war. Generell wurde in diesen Jahren im Schlager der Sound des Rock ’n’Roll zwar aufgegriffen, doch zunächst von Komponisten, Textern und Produzenten, die schon lange im Geschäft tätig waren und ein Interesse an der Entschärfung der Musik und der Inhalte hatten, um im gegenüber der US-amerikanischen Popkultur immer noch reservierten Deutschland kommerziell erfolgreich zu sein. So war die Peter-Kraus-Version nicht nur weniger, sondern überhaupt nicht sexuell aufgeladen und auch langsamer und weniger wild.
Jens Balzer nudelt sie alle durch und präpariert aus der Sprache – in vielen Zitaten – die Ideologien in ihren Wechselspielen heraus: Seitenblicke auf die „Beatmusik in der DDR“, den „kosmopolitischen Krautrock“ der 1970er-Jahre, die Wiederentdeckung des Dialekts und des Regionalen, auf „migrantische … Musik aus der Fremde“ ergänzen das Spektrum. Das abschließende Kapitel über „reaktionären Rap“, die Hamburger Schule“ oder Rammstein bleiben mir infolge Altersüberschreitung eher fremd, auch in ihrer potenziell sprach-bildnerischen Relevanz. Jens Balzer wertet nur indirekt, indem er die vorgestellten und einander kontrastierenden Phrasen auf ihre Abgrenzung von reaktionären Ideologien befragt und das „rebellische“ Potenzial untersucht.
Das letzte Kapitel untersucht die „kulturelle Aneignung und die Frage der Identität“ zu Beginn der 2020er-Jahre. Es ist überschrieben mit „Aus der Pussy“. ens Balzer hat über die geborgten und vermischten Identitäten ein eigenes Büchlein gemacht.
Jens Balzer: Ethik der Appropriation
In diesem knapp 90-seitigen Text in der Reihe „Fröhliche Wissenschaft“ des Verlags Matthes & Seitz erweitert Balzer den Blick auf den zurzeit wütenden „Diskurs“ über die Legitimität der kulturellen „Aneignung“.
Was ist so schlimm daran, wenn man sich als weißer Mensch das Gesicht mit roter Farbe bemalt? Das kann man fragen; freilich muss man sich dann auch eine andere, scheinbar weniger unschuldige Frage stellen. Sie lautet: Wenn es in Wirklichkeit gar nicht so schlimm ist, sich als weißer Mensch das Gesicht mit roter Farbe zu bemalen, ist es dann in Wirklichkeit auch gar nicht so schlimm, wenn man sich als weißer Mensch das Gesicht mit schwarzer Farbe bemalt? Bei der Antwort auf die erste Frage kann man eventuell zögern, abwägen und diskutieren (zumal wenn man sentimentale Erinnerungen an die Cowboy-und-Indianer-Spiele der eigenen Kindheit hegt). Bei der zweiten Frage hingegen scheint die Antwort sofort klar: Natürlich darf man sich als weißer Mensch auf keinen Fall das Gesicht mit schwarzer Farbe bemalen. Das »blackfacing« ist eine rassistische Praxis, die Menschen mit schwarzer Hautfarbe verhöhnt und erniedrigt. Zumindest ein großer Teil der aufgeklärten Mehrheitsgesellschaft wird dies bestätigen, ohne zu zögern.
Jedenfalls sehen wir das heute so. Bis sich diese Einsicht durchgesetzt hat, gehörte das »blackfacing« über Jahrhunderte hinweg aber zu den selbstverständlichen und unhinterfragten Bestandteilen der Popkultur.
Balzer hält nicht die „Appropriation“ an sich für verwerflich, sondern ihren Ge- bzw. Missbrauch zur Ausbeutung oder Verhöhnung. In dieser Hinsicht hat sich weiße Macht und weißes Geld lange Zeit der eingesammelten Andersartigkeit bedient und damit seine Herrrschaft vertieft.
Die Debatte um »cultural appropriation« kreist gegenwärtig nur um Kritik und Untersagungen und wird vor allem, wenn nicht ausschließlich, im Modus der Verbotsrede geführt. So unmittelbar einsichtig in jedem einzelnen Fall die Einsprüche gegen die Aneignung der kulturellen Traditionen von jemand anderem auch sein mögen, so sehr widersprechen diese Verbotswünsche in ihrer Summe doch dem ebenso unmittelbar einsichtigen Eindruck, dass es so etwas wie in sich geschlossene, mit sich selber identische kulturelle Traditionen gar nicht gibt, weil jede Art der Kultur schon immer aus der Aneignung anderer Kulturen entstanden ist; weil sich kulturelle Schöpfung, Beweglichkeit und Entwicklung ohne Appropriation gar nicht denken lassen. Kultur ist Aneignung, was umso mehr gilt in einer Welt, die geprägt ist von der Globalisierung der Kommunikation und der kulturellen Produktion. Seit die elektronischen Massenmedien und schließlich das Internet jedes irgendwo auf der Welt existierende Bild, jeden Sound, jede Art der Selbstinszenierung verfügbar gemacht haben, kann man sich jederzeit von jedem beliebigen »kulturellen Artefakt« (Susan Scafidi) aus welcher Tradition auch immer inspirieren, anregen, herausfordern lassen. Und dass das so ist, bedeutet zunächst einen Zuwachs an Möglichkeiten, an individueller, künstlerischer und existenzieller Freiheit.
Appropriation ist eine schöpferische, kulturstiftende Kraft. Aber zugleich ist sie in Gewalt- und Ausbeutungsverhältnisse verstrickt. Man könnte sagen, dass dies für jede Art der Kultur gilt. Doch treten diese Verhältnisse in bestimmten Formen der Appropriation besonders deutlich zutage: Es sind jene, die der Gewaltlogik führt, die letztlich in das Völkische mündet. Wer auf diesen Holzweg nicht gehen will, muss die Kritik der falschen Appropriation aus einer Bestimmung der richtigen Appropriation heraus entwickeln, oder anders gesagt: Man kann das dialektische Wesen der Appropriation — ihre schöpferische, kulturstiftende Kraft und ihre Verstrickung in Macht- und Ausbeutungsverhältnisse — nur dann zur Gänze erfassen, wenn man sie einer ethischen Betrachtung unterzieht.
Jede „Kultur“ ist ein „Sampling der Identitäten“. Man muss sich in die Terminologie der Betrachtung einlesen, doch betreibt Balzer nicht nur Theorie, sondern erläutert die Ambivalenzen der Ethik anhand vieler Beispiele, die er auch hier überwiegend in der populären Musik findet.
1954, Spielt Elvis Presley in den Sun Studios in Memphis seine erste Single ein: »That’s All Right« stammt im Original von dem schwarzen Bluesgitarristen Arthur Crudup. Mit dem Rock ’n‘ Roll von Elvis schlägt die Geburtsstunde der modernen Rockmusik, wie wir sie kennen. Doch auch der Rock ’n‘ Roll wurzelt tief in der schwarzen Musiktradition, im Rhythm ’n‘ Blues der 1940er-Jahre, der am Anfang übrigens nicht Rhythm ’n‘ Blues hieß, sondern »Race Music«. Eine ganze Generation von schwarzen Musikern erfindet die Musik, die Gesangstechniken, den Habitus, den Stil, mit deren Aneignung Elvis zum »King of Rock ’n‘ Roll« auf- steigt: ein weißer Junge, gerade zwanzig geworden, der alles, was ihn so spektakulär machen wird, von seinen schwarzen Vorbildern übernimmt – und dann mit ein paar weißen Country- und HillbillyEinflüssen verbindet, um es dem weißen Publikum noch schmackhafter zu machen.
Carla Niewöhner: Gentrifizier dich! Inszenierung: Juli Paul Bökamp
Auf der Mitte der kleinen Bühne steht das Wohnungskarussell. Ein Tiny-Haus, für Lena das Ziel ihrer Sehnsucht. Ein Platz zum Schlafen, zum Essen, zum Wohnen, ein Ort, an den man nach des Tages Müh und nach des Abends Freuden heimkehren kann. Ein sichereres Refugium, ein Menschenrecht.
Lena hat gerade ihre erste Stelle angetreten, irgendwas mit Medien, der Lohn ist moderat, aber er müsste für eine kleine Wohnung reichen, natürlich in der hippen Altstadt, nahe am Leben. Lena „nimmt uns mit auf eine obskure und aberwitzige Tour durch WG-Castings und Vermietergespräche und trifft dabei auf ebenso abstruse wie unhaltbare Wohnsituationen“ (Ankündigung). All das Abstruse ist im kleinen Blockhäuschen angesiedelt. Das Haus ist drehbar, es wird von Mietern und Vermietern, wohlwollenden und weniger wohlwollenden Menschen belegt. Es wird zum Kiosk und zum Hostel, zur Bleibe von esoterischen WGs und von zuckenden Neon-Tänzern, zur Pop-up-Galerie. Lena muss das Karussell in Handarbeit antreiben, doch auch wenn sie kurz Eingang findet, wird sie von der Gentrifuge nach kurzer Hoffnung wieder hinausgeschleudert in die Wohnungsfreiheit.
Zunächst schmettert Lena euphorisch Vicky Leandros‘ „Ich liebe das Leben“ mit, sie teilt ihren Übermut mit dem Theaterpublikum. Es wird nicht so bleiben. Matthias will sich in die Donau stürzen, Lena kann ihn vom Suizid wegreden. Ihr Motto: „Gutes kommt zu dir zurück.“ Der Gemüsehändler Murat muss ausziehen, die Miete steigt und steigt, Lena denkt sich Strategien aus, fragt bei Bekannten um Hilfe, um ein freies Sofa für ein paar Tage, sie reduziert ihre Ansprüche, sie telefoniert und telefoniert mit ihrem Tablet, sie reiht sich in selbstzerstörerische Besichtigungsschlangen ein. Sie nennt sich Lena Zimmermann, der Familienname wirkt seriöser. Die Situationen sind bekannt, sind Klischee. Dass ein Vermieter wegen des Staates in Form des Finanzamts die Miete erhöhen muss, war mir neu, ist aber verifiziert.
Lenas „Ich liebe das Leben“ wird früh unterbrochen, das Karussell dreht sich so schnell, dass das Bühnenhaus kaum noch hinterherkommt. Carla Niewöhner treibt Lena in die finale Verzweiflung. (Vielleicht liegt’s auch an der abstrusen Perücke. Kontrast zum schwarzen Playmobilhaar der zwei Maskierten. Lena, als „Landei“ markiert?) (Michael Scheiner, MZ) Oder hab ich da stylemäßig was verpasst?) Natürlich könnte sie auch nach Alteglofsheim ziehen, weshalb muss es Stadtamhof sein? Wegen der im Umland fehlenden Szene-Cafés, wegen der fehlenden ÖPNV-Angebote? Die Ursache für die Misere wird dem Zuschauer überspitzt ausdifferenziert. GENTRIFIZIERUNG! Eine Systemfrage, für die keine individuelle Lösung verfügbar ist. „Gentrifizier dich!“ ist kein politisches Stück, sondern versteht sich als „Satire“, macht aus dem moralischen Dilemma Unterhaltung. Verstanden. Uns dauert die junge Frau. Gleichzeitig schauen wir uns an der nervigen Suche satt, warten auf einen radikalen Schluss.
Lilly-Marie Vogler macht das toll. Sie wechselt vom jugendlichen Esprit zur Getriebenheit. Wo ist der Ausweg? Im Publikum wird es stiller. Katharina Grof hat das multifunktionale Objekt der Mietsache auf die Bühne gestellt, es lässt sich im Nu verwandeln durch drangehängte Schilder, Balkone und Plastikblumen im Playmobil-Stil. Alle Personen werden von Joscha Eißen und Katharina Solzbacher gespielt, mit Masken vorm Gesicht ihrer Individualität beraubt, ihrer Moral, ihrer Verantwortung enthoben. Geld hat kein Gesicht. Am Schluss erscheint auch Lena mit Maske.
Eine flotte Inszenierung von Juli Paul Bökamp. Man bewundert die Darsteller schon allein dafür, wie sie durch das Gentrifugal-Haus schwirren, ohne sich bei der Wahl der Klamotten zu vertun. Viele Szenen, viele davon abgedreht, manche vorhersehbar, auch Klischee rotiert in dem Häuschen. Die Hauptlast trägt die bis fast zum Schluss affektionierte Lena, d.i. Lilly-Marie Vogler.
Theater Regensburg – Aufführung am 26. November 2022
P.S. Natürlich ist Gentrifizierung auch nur Symptom. Die Um-Verteilung oder „Vertreibung“ von Cafés, Kneipen, Boutiquen ist Folge veränderter Nachfrage und knappen Angebots und daraus resultierenden Mietanstiegs, den sich oftmals nur noch – überregionale – Ketten leisten können. Und dahinter stecken in der Regel ökonomische Gegebenheiten wie fehlende staatliche Regulierungsmaßnahmen bei Bodenpreisen oder Spekulation. Auf der Bühne anschaulich illustrieren lässt sich das kaum. Man behilft sich mit Oberflächen-Phänomenen wie etwa gehetzte oder zu Kalamitäten verführte junge Frauen. Wird Lena zur Aktivistin? Irgendwann einmal? Der Aufruf „Gentrifizier dich!“ setzt bei den Adressaten natürlich auch die nötigen finanziellen Quellen voraus.
P.P.S. „Das Stück lässt sich ohne Probleme auf den jeweiligen Theaterstandort anpassen“, liest man bei theatertexte.de. Zum Beispiel Regensburg. Regensburg ist eine Großstadt, doch ist die City – hier: Altstadt – relativ zu klein, als dass sich die „Gentrifizierung“ räumlich ausgeprägt ausmachen ließe. Unter den deutschen Städten belegt Regensburg nach der Einwohnerzahl Rang 54.
Verena Rossbaccher: Mon Chéri und unsere demolierten Seelen
»Ihnen gefällt meine Frisur?« »Ja. Ich wusste allerdings nicht, dass es ein Dutt sein soll, ich fand gerade gut, dass Sie, wo heutzutage jeder einen Dutt trägt, keinen Dutt tragen. Es war eine Frisur ohne Namen, das fand ich gut.« »Und jetzt, wo Sie wissen, dass es ein Dutt sein soll, finden Sie sie plötzlich nicht mehr so gut?« »Das kann ich so nicht sagen. Da es nicht auch nur im Entferntesten an einen Dutt erinnert, hat sich an meiner Sicht auf die Dinge nicht viel verändert.« »Ach so.« Ich schwieg.
In Verena Rossbachers „Mon Chéri und unsere demolierten Seelen“ geht es um viele Nebensächlichkeiten. Aber ist das Leben nicht die Summe einer Unsumme solcher scheinbaren Marginalien: verbrannte Croissants, Ukulelen, Hochleistungsmixer, Schnittlauchsträhnen, Familienaufstellungen, Schokoriegel, der Heimlichgriff, Esoterikpraktiken, Chräbelis und ein Chäslädeli, Handke und der „Dutt“. Und Leonard Cohen. All diese Dinge und viele mehr tauchen immer wieder auf und das ist ein Strukturmerkmal dieses lebensklugen Romans. Ausnahme: „Handke sagte einmal, über Sexualität gebe es nichts zu schreiben. Er sagte, auch im Kino schaue er immer weg, Sexszenen würden alle erniedrigen, die Zuschauer wie die Darsteller. Handke und ich sind weiß Gott nicht immer einer Meinung, aber in dieser Sache muss ich ihm auf die Schulter klopfen.“
Charly Benz ist 43 und hat es bis jetzt nicht geschafft, Ordnung in diese kleinen Dinge zu bringen, ihr Leben zu strukturieren, das meiste gelingt nicht wie geplant bzw. es fehlt ihr ein Plan. „Ich versuchte, die verschiedenen Teile zusammenzusetzen, aber ich konnte es nicht. Es war nur eine Ahnung, wie alles miteinander zusammenhing, nichts, was ich denken konnte. Ahnungen sind nichts, was man denken kann.“ Selbstoptimierung ist etwas anderes. Charly Benz tappert durch ihr Leben und lässt die Leserin hautnah teilhaben. Vieles kennt man und freut sich, es so treffend und amüsant aufgeschrieben zu sehen. So die Haushaltsführungsprobleme eines Lebens, wie es Charly „durchsingelt“: „Alle nahmen sich vor, am Abend was Schönes zu kochen. Entweder sie schafften es nicht, was einzukaufen, oder sie waren doch wieder zu spät dran oder es war dann einfach nicht schön, weil nicht schmackhaft.
Nach zwei Kursen Kochen für Singles wusste ich haargenau, in welchen Mengen man einkaufen musste (Obst und Gemüse stückweise, Reis und Nudeln im Großgebinde) und welche Lebensmittel man vermeiden sollte, da sie von Einzelpersonen nicht schnell genug aufgebraucht werden konnten (feine, kalt gepresste Öle, Tomatenmark im Glas), ich war mir im Klaren darüber, dass Planung das A und O eines glücklichen Ein-Personen-Haushalts war, ich kannte alle Tricks für die, die einem stressigen Job nachgingen (vorbereiten und vorkochen, damit man unter der Woche immer was zum Aufwärmen zu Hause hatte), ich war, was die Singleküche anging, ein Profi und als Profi wusste ich eines nur zu gut: Es war nicht schön.“ „»Und ich denke«, sagte ich, »ich kann damit für meine gesamte Generation sprechen.«“ „Kochen lassen, bis das Wasser nicht mehr zu sehen ist.“
Charly Benz ist eine in ihrem und durch ihr Scheitern sympathische Hauptperson, die das Glück hat, selbst erzählen und ihre Sicht auf sich und die Welt in Frage stellen zu dürfen. Sie erinnert sich an vieles, auch Produktnamen, betreibt Trend-Dropping“, berichtet meist im Detail, wendet sich immer wieder an die Leserin und schon hat sie eine(n) für sich gewonnen. Verena Roßbacher stellt ihr auch einen romaninternen Gesprächspartner zur Seite: Herrn Herbert Schabowski, „einen 60-jährigen Beamtentypen, der für sich das Geschäftsmodell „PostEngel“ erfunden hat, also anderer Leute Briefe an sich nimmt, sie gemeinsam mit ihnen öffnet und die damit assoziierten Probleme bespricht“ (Kristina Maidt-Zinke, SZ). „»Ach, Herr Schabowski.« »Ja, Frau Benz.“ Sie siezen sich bis zum Ende.
Der Roman verliert im zweiten Teil – vorübergehend – das Heiter-Depressive. Es geht um Leben und Tod und nichts weniger. Schabowski erkrankt an Krebs, Charly erbt ein Hotel in Bad Gastein und empfängt ein Kind. Ein „Wutzi“, für das drei Männer als Vater in Frage kommen.
Weihnachten ohne Hunde ist gar kein Weihnachten. Ohne Hunde, ohne Kinder und auch sonst ohne irgendwen, so sollte Weihnachten, das Fest der Liebe, auf keinen Fall sein, und dann lud ich alle ein. Und mit alle meine ich: wirklich alle. Schabowski und das Triumvirat, bestehend aus Quandt, Gabler und Dragaschnig — gut, das verstand sich fast von selbst, irgendwie waren wir ja fast eine Familie, Schabowski als väterlicher Freund, die anderen als befreundete Väter. Dazu lud ich aber — wie ich fand, ganz schön progressiv und auch innovativ —, haltet euch fest, Georg mit den Hundekindern Anduin und Almina und den hotten Tanguero ein. Er hieß Bernhard, wie ich bei der heimlichen Durchsicht von Sybilles Telefon erfahren hatte — Bernhard, völlig unpassend natürlich für einen Tango-Latin Lover. Vielleicht wird jetzt jemand einwenden, dass ich damit das Risiko in Kauf nahm, dass die Stimmung irgendwann kippte, aber ich kann mit gutem Gewissen berichten: Bis Sybille den Abend sozusagen mit dem Arsch einriss, war er ein voller Erfolg.
Charly Benz erzählt die Geschichte(n) geschrieben wie gesprochen. Das schafft Nähe, Glaubwürdigkeit und Vertrautheit. Das verleitet auch zum Plaudern, zum Abschweifen, zum Werben um, „keine Ahnung“, Sympathie, „Dings“, Empathie. Der Roman wird 500 Seiten lang. Zu ausführlich beschäftigt sich die Ansprache – m.E. – mit den Methoden und der Bedeutung von esoterischen Systemen und yogatischen Techniken. Durchaus ambivalent, weil Charly Benz ja von Grund auf ironische Skeptikerin ist, sich angesichts segensreicher Wirkungen in harter Zeit – Geburt und Tod – zu einer wohlwollenderen Betrachtung bekennt. Die Frage, wer oder was die „Seelen demoliert“, verfließt in elegisches Wohlgefühl. „Face the Fear“.
Ich holte ein frisches Taschentuch aus der Packung und putzte mir die Nase. Wenn etwas eine Einbahnstraße ist, dann ist es schwer. Wenn man bei einer Geburt nicht mehr zurückkann, wenn es beim Sterben kein Zurück mehr gibt. Wenn man das, was einem bevorsteht, nur noch akzeptieren kann, das ist für Menschen so schwer.
Über den Gipfeln ging die Sonne auf, kräftig und zart zugleich, jeden Tag, immer wieder wie ein Wunder nach einer langen Nacht. Es war der 26. September, die Hagebutten färbten sich rot, die Brombeeren schwarz, als Herr Schabowski, mein PostEngel, mein Freund, mein Schabowski, aufhörte zu atmen und hinüberging in eine ungewisse Zukunft.
„Humor, oder besser: Sinn für Komik auf der Kippe zum Traurigen, ist das Fundament des Romans.“ (Kristina Maidt-Zinke) Es fehlt noch die Playlist für die besten Abspannsongs:
Ich habe festgestellt«, sagte er, als er die Hörer abnahm, »dass es so eine Art geheimes Genre gibt, nämlich die Songs am Ende eines Films. Ist Ihnen einmal aufgefallen, dass die letzten Stücke oft die besten sind im ganzen Film? Und sie beeinflussen die Stimmung, mit der man aus dem Kino geht, den Film ausmacht.« Er schwieg, ich überlegte, mir fiel so spontan kein Song ein. Als läse er meine Gedanken, sagte er: »Queen Bee von Johnny Flynn, bei der Neuverfilmung von Emma.« »Jesus, ja«, sagte ich, ich erinnerte mich an meinen ersten Besuch bei Hänse zu Hause, unser Duell mit den Laserschwertern, ich merkte, wie ich ein wenig rot wurde, »Queen Bee! Ein Hammerstück!« »Get Well Soon, Oh Boy. Where do you go to my lovely, Darjeeling Limited. Boccherini, Master and Commander, die Bearbeitung für Cello und Geige. Wonderful life, Der Vorname — das ist ein bisschen geschummelt, es ist nicht das Lied vom Abspann, aber das letzte Stück des Films. Chapel of love, Vier Hochzeiten und ein Todesfall, If you want to sing out, Harold and Maude, Du hast den Farbfilm vergessen, Sonnenallee, Sound of Silence, bei —« Ich lachte. »Haben Sie eine Playlist der Abspannsongs lustiger Filme gemacht?« »Richtig, Frau Benz. Fast alle Filme, die wir zusammen geschaut haben, enden mit einem Stück, das mich froh macht und zuversichtlich. Das ist merkwürdig, nicht? Dass ich zuversichtlich bin, obwohl es zu Ende geht.« »Das klingt gut«, sagte ich. Ich dachte ein wenig nach. Musik war sowieso rätselhaft. Ich meine, erinnern Sie sich, vor Weihnachten war ich mir noch so sicher, dass diese magic songs sozusagen jeden Mann fällten, der mir über den Weg lief, oder besser gesagt: mich fällten, aber tatsächlich funktionierte das irgendwie nicht mehr. (…) Ich war natürlich einerseits froh, weil noch mehr Männer konnte ich einfach nicht unterbringen in meinem vollen Alltag, aber andererseits war ich auch ein wenig enttäuscht.
„Lustige Frauen, das lernen wir mit Verena Roßbacher, sind einfach unwiderstehlich!“ (Buchpreis Österreich 2022) Gilt das auch für Männer, die das Buch lesen? Spricht Verena Roßbacher nicht nur für die Generation, sondern auch für den Mann? Die frühe Charly Benz würde empfehlen, zum Lesen eine Flasche Wein zu trinken.
P.S.
Ich las ein Buch, Inhalt: egal, irgendwas mit Männern und Frauen und melancholischen Verstimmungen, und sehnte mich nach einer Zigarette und — whoppa! — plötzlich lief It’s all over now, Baby Blue in der absoluten Hammerversion von Them. Und klar, damit wir uns hier nicht missverstehen, auch ich finde, Bob Dylan ist der King und Them sind im Vergleich dazu ein paar unbedarfte Lakaien, gerade gut genug, sein Silber zu putzen, aber, ehrlich, bei Baby Blue haben sie einfach die Nase vorn. Haben Sie es im Kopf?
Nikolai Gogol : Der Revisor Inszenierung : Daniel Foerster
„Ausgefeilt und grellbunt“ – Claudia Böckel referiert in der MZ ausführlich das „Farbkonzept“ der Inszenierung von Gogols Revisor als „kraftvollem Bilderreigen“ am Theater Regensburg. Sie räsoniert über „Farbfamilien“ und sieht in der Aufführung ein „überzeitliches Theaterstück, das bis heute für jedes denkbare Gesellschaftsgefüge gelten kann“. Eine so „ausgefeilte „Kritik“ haben Daniel Foerster und seine Darsteller:innen nicht verdient!
„Überzeitliches“ gibt es nur, wenn es historisch reflektiert und eingeordnet wird. Sicher, man kann „den Menschen“ für zeitlos schlecht halten, doch da müsste das Denken erst anfangen, müsste nach den Interaktionen von Individuum und Gesellschaft fragen, müsste Antworten auf die Unterschiede zwischen dem Russland von 1835 und den Mechanismen von WirJetztHier – zumindest – versuchen. „Gibt es Not im Volk, nimmt die Klauerei zu.“ klagen die Waldbauern 2022. Verallgemeinert man die Habsucht in „jedes denkbare Gesellschaftsgefüge“, verflüchtigt sich die Aussage ins Triviale. Natürlich gibt es auch im WirJetztHier Korruption, doch sind die Formen der Diebereien andere. Ich frage mich auch, ob Christian Muggenthalers Folgerung Sinn macht: „Weil Regisseur Daniel Foerster konsequent auf Zeitlosigkeit setzt und so den Stoff sofort an der Gegenwart andockt.“ So? Sofort? Auch wenn man auf „Zeitlosigkeit“ abstrahiert, werde ich bestenfalls vom Stück dazu angeregt, ans Jetzt zu denken. Die Personen und ihre Motivationen und ihre Handlungen kann ich zunächst nur in der dargestellten Gesellschaftlichkeit verorten. – Oder man spielt das Stück als Veranschaulichung von Geschichte. Ist vielleicht noch interessanter als bunte, aber zu zaghafte Verheutigung.
In einem kleinen russischen Städtchen wird die Nachricht verbreitet, ein Revisor sei inkognito auf dem Weg in die Stadt. Alle Beamten der Stadt, allen voran der Stadthauptmann als Oberhaupt, fürchten sich vor diesem Besuch. Schließlich hat jeder von ihnen Dreck am Stecken, ob in Verwaltung, Justiz, Schule, Krankenhaus, Post : Sie lassen sich schmieren, bestechen oder erfüllen ihre Aufgaben nicht. Gleichzeitig ist ein junger Mann aus St. Petersburg in einem Gasthaus abgestiegen. Seit zwei Wochen wohnt er dort und hat noch keine Rechnung bezahlt, sondern sich immer alles anschreiben lassen. Schnell geht das Gerücht um, der junge Mann sei der Revisor.
Die Inszenierung hält sich an die Übersetzung von Ulrike Zemme, Veränderungen sehe ich in den Kostümen – „plärrbunt“ freut sich Muggenthaler -, in der Bühnenmöblierung. Aktuelle Bezüge stellt Foerster in der Schlussszene her, wo Marja, die Tochter des Stadthauptmanns (Sophie Juliana Pollack) einen heutigen Text von Wolfram Lotz vorträgt – aus „Die Politiker“. In der Aufführung vom 8. November musste dieser indignierteAnhang allerdings entfallen. Natürlich kann ich mich auch über die Persiflage auf die Geld- und Machtgeilheit der Männer zu Gogolzeiten freuen. Gogol selbst hielt die Komödie für den „Sammelpunkt für alle möglichen Unzulänglichkeiten“. Franziska Sörensen ist in ihren Rollen als Direktorin, Postmeisterin, Geschäftsperson eine moderne lärmende Abwandlung.
Die Inszenierung verzichtet auf zeitgenössisches Mobiliar. Die Bühne ist möbliert mit verschiebbaren Treppenblöcken, was viel Rollaufwand bedeutet und als Requisitenballett einige Zeiten in Anspruch nimmt. Die „Rolltreppen“ sind wohl mit Symbolgehalt bestückt: Alle wollen sie beklettern, oben ist wer droben ist. Im Spitzenduell treten sich Thomas Mehlhorn als Stadthauptmann und Max Roenneberg als der vermeintliche Revisor Chlestakow gegenüber. Die spitzen Frauen drängen sich zum Gipfel, sie wollen den agilen Nachschauer für sich, die Tochter macht gegen ihre notgeile Mutter Anna (Kathrin Berg) das Rennen. Scheinbar, denn der Revisor sucht vor so viel Frauenpower das Weite.
Eine wenig wagende Aufführung, die ihren komödiantischen Esprit vor allem aus choreografierten Menschengruppen bezieht, Getrippel, Getrappel, das die Aufmerksamen im Publikum zu verdrücktem Gegiggel hinreißt. Die Leiden eines Minderbekochten und geldlosen Subalternen (Diener Ossip: Michael Haake) werden nicht nur für den Hungernden zur Qual, sondern auch für die Zuschauer, die damit zu lange konfrontiert werden. Nach der Pause konzentriert man das Personal auf die Showdown-Treppen und forciert so den Weg zum erlösenden, aber fürs dramatisch-komödiantische Personal unbefriedigenden Ende. Der „Revisor“ scheint an seinen entlarvenden Eskapaden Gefallen gefunden zu haben und zieht in die nächste russische Kleinstadt. Wahrheiten für Regenburg? * Vielleicht das nächste Mal. Heftiger Applaus, auch Gejohle von einigen, die sich selbst begeistern.
Theater Regensburg – Aufführung am 8. November 2022
* P.S. Selbstverständlich ist Regensburg nicht frei von Korruptionen. Man denkt sofort (?) an Franz Joachimowitsch. Doch der eine war mit seinen Korruptiönchen nicht (nur) auf eigene Vorteile aus, der andere ist in seiner Staatspartei mit solchen Schmutzeleien gut aufgehoben und dort im Vergleich zu Alfred Petrowitsch ein eher kleiner Blender. Für den großen Beschiss braucht es heute ja eh Algorithmen. – Das nächste Stück beschäftigt sich mit einer spezifischen Wahrheit der „Perle“ Regensburg: „Gentrifizier dich!“ „Viele Regensburger*innen betrachten die Gentrifizierung mit Argwohn.“ (Ankündigung)
Играем — Igraem – „Lasst uns spielen“ – Das Motto für den Roman
Spielen heißt nicht, nicht ernst zu sein. Spielen heißt, trotz des Ernstes nicht zu verzagen, spielen heißt, Musik zu machen, auch wenn man keine Gitarre hat. „Am Abend würde sie ein Konzert in ihrer Küche geben, ein Kwartirnik, sie allein mit der Gitarre vor zehn, vielleicht zwanzig Leuten. Wenn so viele kämen, würde es eng werden, und noch immer hatte sie kein anständiges Instrument.“ Wenn in der UdSSR der Trauermarsch von Chopin (3. Satz der Klaviersonate Nr. 3 op. 35) im Radio zu hören war, wusste man, dass einer (nie: eine!) von ganz oben gestorben war.
„Im hinteren Teil der Wohnung wurde ein Radio eingeschaltet, es erklangen die letzten Takte von Chopins Trauermarsch, dann intonierte ein Chor: Unsterbliche Opfer, ihr sanket dahin. Das Radio wurde wieder ausgeschaltet. Es ist ja nicht zu überhören, dass in Moskau schon wieder einer gestorben ist, bemerkte Maria Nikolajewna. Und wer ist gestorben? Sie spielen Chopin. Der verehrte Matwej Alexandrowitsch vermutet – Solange nichts offiziell verlautbart ist, vermute ich gar nichts! rief Matwej Alexandrowitsch mit ungewöhnlicher Heftigkeit. Wer auch immer gestorben ist, beschwichtigte Maria Nikolajewna*, ich muss mich jetzt fertig machen. Bis später.“
Die „Zukunftsmusik“ spielt nur an einem einzelnen Tag: dem 11. März 1985. „Es war ein Morgen, an dem zwar der Trauermarsch aus allen Lautsprechern drang, und doch lag die Hoffnung auf etwas Neues in der Luft.“ Die Bewohner der Kommunalka sprechen es nicht aus, aber an diesemTag, einen Tag nach dem Tod des sowjetischen Staats- und Parteichefs Konstantin U. Tschernenko wird Michail S. Gorbatschow in Moskau zum neuen Generalsekretär der KPdSU gewählt. „Sagen Sie, verehrter Matwej Alexandrowitsch, Warwara Michailowna sprach so leise, dass er sich zu ihr beugen musste, ich nehme an, dass Sie in Kenntnis sind, was uns erwartet?
Uns? Sie meinen die Bürger unseres Landes? Sehr richtig, die Bürger unseres Landes. Oder von mir aus auch nur unsere kleine Schicksalsgemeinschaft hier. Was erwartet uns? Nun, es ehrt mich, und es schmeichelt mir, dass Sie bei mir ein höheres Wissen vermuten. Was wünschen Sie uns denn, Warwara Michailowna? Warwara Michailowna sah Matwej Alexandrowitsch an und lächelte.
Die Kommunalka – „unsere kleine Schicksalsgemeinschaft“ – ist eine Wohnform, in der mehrere Personen/Familien in einer ehemaligen herrschaftlichen Großwohnung zusammen leben. Jede Person hat nur wenige Quadratmeter Wohnraum, Küche, Bad und Toilette werden gemeinsam benutzt. „Privat“ sind nur der Herd und der Esstisch, der allerdings exakt die gleiche Größe haben muss wie die Tische der anderen. Daran muss man sich erst einmal gewöhnen, denn die Belegung der Kommunalka wird nicht von den Bewohnern bestimmt, Individualität hat einen schweren Stand, ist aber auch vom System nicht erwünscht.
In der Roman-Kommunalka leben sechs „Parteien“, vom Imgenieur Matwej Alexandrowitsch, der allerlei in kleinen Kästchen für die Zukunft aufbewahrt, von dem er sich noch Nutzen in der Zukunft verspricht: „Fotografien 1935-1975, Knöpfe, Zähne, Bindfaden, Insekten, Schnipsel aus Papier und Stoff, Stifte, Gummibänder, Weihrauch, Nägel, Bonbons, Vitamine, Gewürznelken, Muschelschalen, Zeitungsausschnitte, Liebe, Theaterkarten, Troilit, Bahnfahrkarten, Watte, Gedichte, Rinde, Murmeln i. versch. Größen, Kabel.“ In einem Zimmer wohnen vier Generationen einer Familie: Großmutter Warwara Michailowna hilft als pensionierte Hebamme im Krankenhaus aus, Mutter Maria Nikolajewna arbeitet im Museum für Natur- und Völkerkunde. Matwej Alexandrowitsch sucht sie dort auf.
Wir müssen die jungen Leute in ihren musikalischen Ambitionen unterstützen, meinen Sie nicht? Ganz und gar nicht. Es ist keine Musik. Es ist böse. Maria Nikolajewna lachte hell auf. Sie sind wirklich drollig. Was ist denn daran böse? Erinnern Sie sich an Ihre eigene Jugend! Lieber nicht. Sie haben recht. Wir hatten keine gute Jugend. Andererseits ist die Jugend immer schön. Wir haben geküsst, und wir haben getanzt, und alles schien möglich. Die Zukunft hatte Zeit. Nein, ich erinnere mich nicht. Das ist sehr schade. Ich erinnere mich.
Janka, die Tochter von Maria Nikolajewna, arbeitet nachts in einer Glühbirnenfabrik, sie schreibt Songs und will sie am Abend im „Kwartirnik“ vortragen. IhreTochter Kroschka (dt. Brösel) ist vier, Janka hat an diesem Tag nicht viel Zeit für sie. Man hätte sich viel zu sagen, hat sich das meiste auch schon gesagt, traut sich aber nicht laut zu sein, wer weiß, wer aller mithört. Alltag in der Sowjetgesellschaft.
Ich bewundere Sie, Matwej. Wofür bewundern Sie mich, Verehrteste? Ich bewundere Sie dafür, dass Sie das Leben — unser Leben hier — nicht hinterfragen. Aus vollem Herzen singen Sie die Lieder der Partei, aus vollem Herzen halten Sie an der großen Idee fest. Tun Sie das denn nicht? Soll ich Ihnen diese Frage ehrlich beantworten? Wovor haben Sie Angst? Ich fürchte mich vor so vielem, ein ganzes Lexikon der Angst könnte ich schreiben. Die Ängste gehen ineinander über und bilden einen allumfassenden Schrecken. Jetzt übertreiben Sie aber, liebe Maria Nikolajewna. Vielleicht ein wenig, aber ich bin nicht der Mensch, der sich durchsetzt. Ich mache kleine Schritte. Vielleicht ist das ein Fehler, aber so habe ich es immer gemacht. Es ist bestimmt kein Fehler. Ich wäge meine Schritte ab. So kann ich meine Ängste in Zaum halten.
Der Roman ist voller Anspielungen auf die Sowjetgesellschaft. Die Zeitenwende versteckt sich in den kleinen Nischen des Alltags. Niemand weiß etwas, der Leser kann auf die Suche gehen, möchte die Personen anstupsen. Der Trauermarsch kündigt sich als Zukunftsmusik an. „Und zwischendurch verbeugt sich die Autorin mit phantastischen und absurden Schlenkern vor Satirikern wie Gogol, wenn etwa Leute das Fenster öffnen und einfach davonfliegen aus der bedrängenden sowjetischen Enge. Am Schluss stürmen alle aus der Wohnung, denn das sowjetische Haus wird abgerissen, oder vielleicht auch nur umgebaut. „So genau weiß das niemand.“ Bis heute wissen wir das ja nicht so genau.“ (Sigrid Löffler, Deutschlandfunk) Играем — Igraem – „Lasst uns spielen“.
Der Vollmond schien zwischen den Stämmen, und ein Wind kam auf, das Laub raschelte. Benjamin trat einen Schritt zurück, und als die Blätter sich entzündeten, musste er die Augen abschirmen, um nicht geblendet zu werden. Der Funkenregen fiel über die dunkle Landzunge, wie ein Lauffeuer breitete sich der Silberbrand in den Bäumen aus.
Benjamin und seine Brüder. Nils, der ältere, Pierre jünger, Benjamin ist der Chronist, die Figur. Die beobachtet wird und im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Die Familie lebt in der Stadtwohnung, wichtiger aber ist das Sommerhaus, an Wald und See. „Sie sind auf der anderen Seite des Landes, fahren tiefer und tiefer in die Wälder hinein, und sie reden weniger und weniger, und als sie schließlich von der Landstraße abfahren, verstummen sie ganz. Jetzt geht es wieder durch das Wurmloch.“ Die Brüder streiten, raufen, fühlen sich als Einheit.
Sie konnten einander nicht helfen, und so ist es schon immer gewesen, seit sie erwachsen sind. Keiner von ihnen weiß, wie man sich in die Augen sieht, ihre Gespräche finden mit gesenktem Blick statt. Schnelle, stoßweise Kommunikation. Manchmal denkt er an alles, was sie durchgemacht haben, wie sie sich in der Kindheit aneinandergeschmiegt haben, und wie seltsam jetzt alles ist; sie benehmen sich ja wie Fremde. Er ist überzeugt, dass es nicht nur an ihm liegt, es liegt an ihnen allen.
Die Söhne müssen ihre Zusammengehörigkeit und ihre Selbstbestätigung nicht zuletzt gegen die Eltern und dabei vor allem gegen die Mutter behaupten. Die Mutter stellt sich als eher abweisende Person dar, sie kann ihre Liebe nicht in Zuwendung zeigen, bestraft unüberlegt, zieht sich zum Rauchen und Trinken zurück. Erst nach ihrem Tod dürfen die Brüder ihren Brief lesen, in dem sie ihr Verhalten begründet.
Benjamin. Die schwerste Last hattest Du zu tragen. Vor allem um Dich tut es mir leid. Ich habe Dir nie Vorwürfe gemacht, niemals. Doch genau das konnte ich Dir nie sagen. Wenn ich Dir aus meinem Schweigen in all den Jahren nur eins vermitteln könnte, so wäre esdies: Es war nicht Deine Schuld.
Wenn wir uns treffen, schaue ich Dich manchmal an. Du stehst immer ein wenig abseits, gern in einer Ecke, und beobachtest die anderen. Du bist immer derjenige gewesen, der beobachtet, und du versuchst noch immer, Verantwortung für alle anderen zu übernehmen. Manchmal frage ich mich, was wohl aus Dir geworden wäre, wenn das alles nicht passiert wäre.
Die brüchigen Beziehungen der Personen werden nicht ausgesprochen, sie schweigen wie die Natur, die Fichten, der See, evozieren den Wunsch zusammenzugehören trotz der Geheimnisse.
Er wusste, dass Nils‘ Abreise bedeutete, dass etwas endgültig zu Bruch gehen würde. Denn wie sollte es ihm gelingen, die Familie zu reparieren, wenn einer von ihnen verschwand? Er wusste auch, dass Nils‘ Abreise eine Gefahr für ihn selbst darstellte. Wenn Nils verschwand, verschwand jemand aus der Wirklichkeit, eine Hand auf seiner Schulter, die ihn am Platz hielt. Dann war da einer weniger, der Benjamin versichern konnte, dass es diese Familie gab, und dass es ihn gab. Jemand, mit dem er über den Abendbrottisch einen Blick wechseln konnte, der ihm stumm bestätigte: Du existierst. Und das hier ist passiert.Stumm.
Alex Schulman macht das geschickt. Baut Atmosphäre auf, drohend, aufdringlich, die Abgründe der nordischen Natur, die auch die Menschen hineinziehen. „Schulman legt die Unfähigkeit der Erwachsenen wie die Ängste der Kinder in allen Nuancen offen.“ (Werner Bartens, SZ) Aber es wirkt immer stärker wie eine artifizielle Anordnung. „Genial gestrickt“, 3SAT Buchzeit), doch es geht nicht auf. Schulman hat sich so sehr in die Geheimnisse und Effekte verloren, dass er triviale Tricks braucht, um sich – und den Leser – wieder herauszuziehen. Benjamin muss ganz am Ende zur Therapeutin, die den Knoten in wenigen Sitzungen löst, die andeutet, was Benjamin verdrängt und was ich als Leser kaum mitbekomme. Dass Benjamin mehrere maskierte Suizidversuche unternahm, dass da im Trafohäuschen etwas anderes geschah, als die Erinnerung festhalten wollte. Erst jetzt kann die Mutter erlöst sterben.
Aber ich habe einen letzten Wunsch: Bringt mich zum Sommerhaus zurück. Verstreut meine Asche unten am See. Ich möchte nicht, dass Ihr es für mich tut — ich weiß, dass ich jedes Recht verwirkt habe, Euch um irgendetwas zu bitten. Ich möchte, dass Ihr es um Euretwillen tut. Setzt Euch ins Auto, nehmt die längere Strecke. So möchte ich Euch sehen: zusammen. In den vielen Stunden im Auto, in der Einsamkeit unten am See, abends in der Sauna, wenn es nur Euch gibt und niemand anderes zuhört. Ich möchte, dass Ihr tut, was wir nie getan haben: dass Ihr miteinander redet.
Alex Schulman erzählt abwechselnd in der Chronologie der Vergangenheit und im Präsens des Rückblicks. Die Jetztzeit dauert einen Tag, der im 2-Stunden-Takt rückwärts verläuft. Das letzte Kapitel heißt „0 Uhr“.
Benjamin nimmt einen Zug und gibt sie dann weiter an Nils. Pierre lacht auf. Nils‘ sanftes Lächeln im spärlichen Licht. Sie lassen die Zigarette reihumgehen und sehen einander an, und sie brauchen jetzt nicht zu sprechen, ein kurzes Nicken genügt, oder auch nur die Andeutung eines Nickens. Sie wissen es, sie tragen sie in sich, als hätten sie sie bereits unternommen: Die Reise, die sie zum Einschlagpunkt zurückbringen wird, rückwärts in ihrer Geschichte, Schritt für Schritt, um ein letztes Mal zu überleben.