Iwan Gontscharow: Oblomow
&
Peter Sloterdijk: Du musst Dein Leben ändern
Der wichtigste Satz steht fast am Ende:
„Die Vernunft der Nationen erschöpft sich noch immer in dem Bemühen, Arbeitsplätze auf der Titanic zu erhalten.“
Als Resultat der 700 Seiten bleibt ein großer Kultur-, Menschheits- und Weltpessimismus. Der Zusammenhang mit den zuvor detailliert vorgestellten „Anthropotechniken“ ist da, scheint mir aber doch nicht stringent genug.
Lange lange erzählt Sloterdijk über Anspruch und Erfüllung der „Vertikalspannung“ – von Rilke (Titel) über Nietzsche und andere amputierte Virtuosen über Heidegger zur Russischen Revolution mit vielen Ein- und Ausblicken zu östlichen Erhebungstechniken. Das betrifft meist sezessionistische Übungen der Einzelnen, die sich übend aus ihren Basislagern erheben, schließt aber auch biopolitische Wahnideen der russischen Oktoberrevolution mit ein.
Eingebettet in die zentrale Erzählung vom Besser-Werden der Menschen als Einzelner oder als Kollektiv gibt Sloterdijk im letzten Kapitel einen betont defaitistischen zornigen Ausblick. (Der durchaus in Schulbüchern stehen sollte.) Gerade auch der Schule attestiert Sloterdijk eine gewaltige Implosion/Erosion. Dazu demnächst Anmerkungen in der Kategorie SCHULE.
Leider finde ich zu wenig über die gegenwärtigen Bedingungen und Methoden des life-designs. Aber das war wohl nicht Thema der Ethikgeschichte.
Beim Lesen werde ich schnell müde, weil Thema und Stil doch hohe Anforderungen stellen. So weiß ich auch nicht, ob ich wirklich etwas richtig verstanden habe. Sloterdijk machts eigentlich modern: Er spricht von Trainern, Mikroklima, Achsenzeiteffekten oder Athletismus. Aufgeschäumte Gedanken machen auch ein dickes Buch.
Ein Textbeispiel:
„Diese Figur einer von Eigentätigkeit unterspannten Passivität wäre als die für die Moderne konstitutive Ausprägung von »Gelassenheit« zu kennzeichnen, falls es gelänge, die pietistischen Konnotationen des Ausdrucks fernzuhalten. Gelassenheit meint Passivitätskompetenz – sie ist die kleine Münze des Könnens, das größere Passionen trägt. Sie kommt in Situationen zum Zuge, in denen das Subjekt bereit und willens ist, die Position eines Klienten einzunehmen, um vom savoir faire des operanten Partners zu profitieren. Sie ist daher eher ein Modus von Klugheit als das moderne Substitut für Weisheit, das Heidegger in ihr sehen wollte. Wir erinnern uns: Der Philosoph hatte »Gelassenheit« empfohlen, damit der vom eigenen Tunkönnen benommene Mensch der Moderne sich erneut der Behandlung durch das Sein selbst aussetze. In Wahrheit gehört das passivitätskompetente Verhalten zur Spielintelligenz von Menschen in einer entfalteten Netzwelt, in der man keinen eigenen Zug machen kann, wenn man nicht zugleich mit sich spielen läßt. Gelassenheit in diesem Sinn ist untrennbar vom Selbstverständnis erfahrener Akteure, für die die philosophische Schimäre des Subjekts, das in der Mitte seiner Handlungskreise residiert, verblaßt ist, besser: ihren Gebrauchswert als diensthabende Selbstbeschreibung verloren hat.“
Das liest sich schön bzw. man freut sich, dass man selbst etwas versteht, es lässt sich natürlich auch fragen, ob der Schreiber seine Thesen und Erzählungen auch mit etwas weniger Selbstverliebtheit im Stil hätte gestalten können. Knapper wäre es sicher gegangen.
Raine Maria Rilke: Archaischer Torso Apollos
Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,
sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.
Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht wie Raubtierfelle;
und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.
(aus: Neue Gedichte, 1907)
Oblomow verlässt den Horizont seines Sofas nicht. Er kennt und duldet keine Vertikalspannungen. Sein Basislager ist ihm genug; sein Name ist Synonym für die Abstinenz von irgendwelchen Bestrebungen. Leider kommt Oblomow bei Sloterdijk nicht vor. Er könnte auf jeder Seite als Musterbeispiel dessen gelten, der sein Leben NICHT ändern will.
Der Roman von Iwan Gontscharow stammt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Oblomow lebt in den alten Zeiten; er ist Besitzer eines kleinen Dorfes mit einigen Bauern, die seinen Lebensunterhalt so einigermaßen sichern. Im zweiten Teil des Romans wird dann doch Vertikalspannung an ihn angelegt. Sein deutscher Freund Štol’c zerrt und drängt ihm Veränderungen auf: Reisen, Fortschritt, Eigentätigkeit. Oblomow bleibt liegen. Stolz setzt Olga auf ihn an. Sie soll ziehen. In Anflügen von Liebe verlässt er das Basislager für kleine Spaziergänge, doch will er sich nicht vordrängen. Er ist ein guter Mensch. Sein Sofa ist sein Paradies. Es gibt keinen Grund, das Paradies zu verlassen. Und so fällt er wieder zurück in das, was Štol’c resiginerend „Oblomowerei“ nennt. (обломовщина – oblomowschtschina).
700 Seiten, gut zu lesen, interessant weniger wegen der feingeistigen, aber letztlich doch nervenden Figur Oblomow als wegen der Beschreibung des Wandels der russischen Gesellschaft von einem den Fortschritt hemmenden, verkümmerten Adelsparasitentum zu zumindest einer Idee von selbstaktiver Lebensänderung.
Den Roman gibt es hier auch im Internet: Gontscharow: Oblomow
1 Kommentar so far
Hinterlasse einen Kommentar
Jetzt aber endlich auf’s Pferd und die Lanze eingelegt! Zunächst: Von Zeit zu Zeit les‘ ich den Slotij gern. Irgendwann bin ich mir aber nicht mehr sicher, ob sich unter dem großen Wissen, das er ausbreitet und dem oft recht originellem Stil nicht doch auch z.T. Blendwerk befindet. Den Vorschlag, den Begriff ‚Religion‘ aus dem Verkehr zu ziehen, finde ich reichlich kühn. Die Religionen auf das ihnen innewohnende Exercitium,modern: Trainingsprogramm, zu reduzieren, ist wohl doch eine Verkürzung. Da hat er den Carl Friedrich von Weizsäcker nicht so genau gelesen, den er ansonsten mit einem hohen Lob bedenkt. Wegen dieses Lobes verzeiht ihm der Kommentator einiges. Vielleicht hat die Fixierung auf diesen Aspekt doch auch mit Biographischem zu tun. Für mich schimmern da manchmal Sloterdijks Erfahrungen mit Osho, alias Baghwan durch. Stört mich eigentlich nicht, aber als ein in jüdisch-christ-katholischer Wolle gefärbter Mensch denke mir da mit klammheimlich diebischer Freude: Ha, ha, trainiert nur mal schön! Der Gott, wenn’s ihn denn gibt, wird herzlich lachen über eure Klimmzüge. Nicht dass die Maxime „Du musst dein Leben ändern!“ nicht biblisch wäre, nur muß man dann wissen, wohin man sich zu ändern hat, bzw. was der Maßstab ist. Aber bevor ich mich jetzt mit den Atheisten derjenigen Coleur anlege, die die Welt ändern, soll heißen, bessern wollen, vielleicht sogar sich selber, nur noch eine Bemerkung zu Oblomow. Er ist ja, wie der Rezensent richtig bemerkt hat, für so ein Änderungsprogramm nicht zu haben. Auf der einen Seite der deutsche(?) Faust, der immer strebend sich bemüht und letzlich blind durch die Welt rennt, auf der anderen Seite Oblomow, der sich auf seinem Sofa möglicherweise denkt: „Der Mensch denkt und rennt, aber Gott (Ätsch!) lenkt.“ Aber das ist jetzt womöglich mehr Tolstoj als Gontscharow.
Kommentar von Josef Schindler 21. Januar 2010 @ 20:42