Nachrichten vom Höllenhund


Ulinich
27. September 2009, 12:14
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Anya Ulinich: Petropolis

Sascha starrte auf den Boden. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Laut Ljubow Goldberg waren Berufsschulen im Allge­meinen etwas für den Pöbel und Model-Schulen das Aller­schlimmste, denn da geht der Pöbel hin, der auf den Strich will. Kinder der Intelligenzija gehen überhaupt nicht nach der ach­ten Klasse von der Schule ab. Selbstverständlich hatte Sascha weitere zwei Jahre Nr. 13 auszuhalten und dann aufs Gymnasium zu gehen. Vorzugsweise in Moskau, Sankt Petersburg oder we­nigstens Krasnojarsk. Ljubow Goldberg bestand darauf, dass Sascha eine Zukunft hatte, und Sascha war jetzt schon sicher, in ein paar Jahren an den Granitfassaden irgendeiner Großstadt entlangzuschleichen, auf Erfolg getrimmt kraft der Entschlos­senheit ihrer Mutter. Dass jemand in ihrem Alter sich seine Zu­kunft selbst erschaffen musste, der Gedanke war Sascha Gold­berg nie gekommen.

»Und was ist mit NACH DEM ESSEN -?«, fragte sie leise. »Gehst du da weg?«
Die Tonnentür ging auf, und ein Mann sackte zu Boden.
“Oj!”,schrie Sascha auf und sprang zur Seite.
Der Mann hievte sich auf die Knie und sackte wieder hin, dies­mal mit dem Gesicht in den Matsch. Wie das wohl klingt, wenn die Wange aufklatscht, dachte sie, und Bruchteile von Sekunden später hörte sie es.
»Siehst du? Ich halt das nicht mehr aus.« Katja stieg über die Beine des Mannes und drückte die Tür auf. Die Feier drinnen lag in den letzten Zügen, das Gelächter ging über in Gejammer und gezischtes Gefluche.
»Mama!<-, schrie Katja. »Da draußen liegt Onkel Vadim. Sag Aljoscha, er soll ihn reinholen, bevor ihr ins Bett geht! Ich bring Sascha zum Bus!«
Keine Antwort. Katja begleitete Sascha zurück zu dem Weg.
Im Dunkeln sah der Schrottplatz aus wie die Titanic auf dem Meeresgrund.
»Wie spät ist es eigentlich?« Sascha fing an, sich Sorgen zu machen.
»Viertel nach zehn ungefähr.« Katja sah hoch.
»Woher weißt du denn das?«
»Von den Sternen«, sagte Katja. »Hat mir Alexei letztes Jahr beigebracht. Geht leicht hier, die Strommasten sind wie Uhrzei­ger, die zeigen zu verschiedenen Zeiten auf verschiedene Sterne. Wenn man Stromleitungen lange genug anstarrt, kann man ’ne Menge lernen.«
Sie liefen zusammen den Hügel hinunter zur Bushaltestelle. Sascha Goldberg hatte noch nie etwas lange genug angestarrt und eine Menge dabei gelernt. Aber jetzt, beim Duft von fri­schem Gras und Nachtluft, spürte sie eine Verbindung zu einer Welt, die komplett außerhalb lag.

 Sascha Goldberg lebt mit ihrer Mutter Ljubow in Asbest 2. Es ist kalt oder heiß und überall schlammig. Sie will raus, aber in Asbest 2 gibt es keine Perspektive und die Kunstschule ist schlecht und die Uni weit weg. So lässt sie sich von einem Amerikaner per mail-order heiraten und schon ist sie in ihrer Traumwelt, in die auch ihr Vater geflohen ist. Saschas Vater ist Afrikaner, sie hat von ihm ihre Hautfarbe und ihre krausen Haare, und Jüdin ist sie auch. Und etwas fester.

Anya Ulinich erzählt abwechselnd von Asbest 2 und von Saschas Erlebnissen in den USA, wobei auch das Glitzerland nicht besser abschneidet. Ist das Gelände am Polarkreis bodenlos, so zeigt sich Amerika als oberflächlich glatt, eine Welt, nur durch Kaufen auszuhalten. Sascha holt ihre Tochter Nadja, die jetzt sieben ist und die sie als Siebzenjährige bekam und in Asbest 2 bei ihrer Mutter zurückließ, schließlich nach Amerika nach. Nadja kapiert schnell: „Ich wihl Rucksack, was ihst glänzend!

Das Buch ist witzig, lakonisch, oft skurril. Man erkennt reale Klischees aus dem heutigen Russland und erfährt in Saschas subjektiver Sicht auch einiges über das Leben von Immigranten und sonstigen Überlebenswilligen in den ebenso gottverlassenen USA. Natürlich ist es ein Adoleszenzroman. 

2-

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2007     420 Seiten

http://www.perlentaucher.de/buch/30762.html


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