Nachrichten vom Höllenhund


Reichlin
4. Oktober 2009, 16:50
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter:

Linus Reichlin: Die Sehnsucht der Atome

Ein rätselhafter Amerikaner bittet den Brüsseler Kommissar Jensen ihm zu helfen, weil er sein Leben bedroht fühle. Im Hotelzimmer des Amerikaners findet Jensen zwei Kinder, die bald darauf spurlos verschwinden, während ihr Vater wirklich ermordet wird. Dann kommt die mysteriöse Frau O’Hara, die blind, aber sehr bestimmend ist. Beide treffen sich zufällig im Flugzeug nach Amerika und beginnen gemeinsam, aber sehr distanziert die Suche nach den Kindern, geraten dabei ins staubige Arizona und danach ins kalte und neblige Hochland der Sierra Madre in Mexiko und zu einem abgelegenen Dorf, in welchem eine Heilerin ….

»Ich werde es gleich der Küche melden«, sagte Gonza­les und eilte davon, ein sechzig-oder schon siebzigjähri­ger Mann, dem die Jahre die Zähne, die Zehennägel, das Haar gelb gefärbt hatten, und dessen unerfüllte Träume ihn wie Schatten umgaben. Es tat Jensen ein wenig leid, zu sehen, wie sehr dieser alte Mann sich bemühte, seine Gäste gut zu bewirten.

Jensen stellte das Gepäck im Hotelflur in eine Mauer­nische, die er von der Bar aus im Auge behalten konnte. O’Hara hatte den Weg in die Bar bereits gefunden; der Junge und das Mädchen beobachteten mit offenem Mund, wie die große, schöne Frau mit ihrem langen wei­ßen Stock die Hindernisse abtastete und sich dann ganz hinten an einen Tisch setzte. Vielleicht wurde den bei­den in diesem Moment klar, dass man auch hier in Veinte de Noviembre etwas Außergewöhnliches erleben konnte, wenn man nur lange genug jeden Abend in der einzigen Bar ein Bier trank. Jensen setzte sich neben O’Hara und lächelte den beiden zu, worauf sie sich ab­wandten und sich flüsternd über die Ereignisse unter­hielten.

»Sie sitzen neben mir«, sagte O’Hara. »Warum nicht mir gegenüber?«

»Weil Sie mit dem Gesicht zum Eingang der Bar sit­zen. Von hier aus kann man unser Gepäck sehen. Ich möchte es im Auge behalten. Und am liebsten auch den Dorfplatz. Aber Sie sitzen am Fenster. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gern die Plätze tauschen.«

»Sie haben recht«, sagte O’Hara. Sie stand auf und tas­tete sich um den Tisch herum.

Jensen setzte sich ans Fenster. Er schob den steifen, karierten Vorhang zurück und konnte nun den Dorf­platz überblicken. Das Licht der Glühbirnen geisterte im Wind über die Hausfassaden. Eine Gestalt verschwand in einem Hauseingang, es war nicht zu erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war, alt oder jung, nur ein Schatten.

»Und jetzt warten wir also auf Botella«, sagte O’Hara.

»Ja. sieht so aus. «

Spannend und anschaulich erzählt, man fühlt sich wie in einem Film. Wenn da nicht die Handlung wäre, die ihr “Heil in der Flucht sucht und die Versatzstücke […] durch tolldreiste Überbietungen immer weiter ins Unvertraute, zuletzt mit einigem obskurantistischem Brimborium in ein abgelegenes Dorf tief in Mexiko und damit auch ad absurdum führt.” (Ekkehard Knörer in einer Perlentaucher-Rezension). Und das ärgert mich. Warum muss man ein interessantes Buch mit solch übersinnlichen Irrsinn aufladen!

Auf der zweiten Ebene steht Kommissar Jensen als Hobby-Physiker, der in seinem baldigen Ruhestand in seinem Keller eine Doppelspaltexperimentinstallation aufbauen will. Ihn beschäftigen die Atome und vor allem das Heliumatom, das nicht getrieben ist von der Sehnsucht, sich zu binden, und mit keinem anderen Atom eine Symbiose eingeht. Es ist in sich vollkommen, aber auch vollkommen alleine! Nach Jensens Ansicht ist dieser Fall von Bindungsangst seinem eigenen Schicksal nicht ganz unähnlich. Und so erzählt er nicht nur dem Leser sondern im Suff auch dem alten Gastwirt in der Sierra Madre von den elementarsten Dingen im subatomaren Bereich.

Es war Zeit, dass er es sich eingestand: Er glaubte das alles nicht. Er glaubte nicht an die Streptokokken, nicht an die atypische Krankheit mit dem mühsamen Namen, nicht an den Zufall, den alle anderen einfach hinnahmen, er nicht. Unter einem Zufall verstanden die meisten Menschen (las Zusammentreffen zweier Ereignisse, die miteinander nicht in Verbindung standen. Aber in der makroskopischen Welt, der Sphäre der Menschen, Bäume und Planeten, standen zwei Ereignisse stets miteinander in Verbindung. Für alle, ausnahmslos alle Geschehnisse galt hier das Gesetz von Ursache und Wirkung. Zufälle waren lediglich Ereignisse, deren genaue Ursache man nicht kannte, gleichwohl gab es eine solche. Selbst der unglaublichste Zufall war nichts anderes als eine komplexe Verknüpfung zahlreicher Geschehnisse, die wiederum alle eine Ursache und eine Wirkung hatten. Echte Zufälle, nämlich das Entstehen eines Ereignisses aus sich selbst heraus, vollkommen willkürlich, ohne jede Ursache, gab es mir in der Welt der kleinsten und elementarsten Dinge, im subatomaren Bereich. Hier geschahen die Dinge einfach nur deshalb, weil sie geschahen, hier endete alle Kausalität. Ob etwa der radioaktive Zerfall eines Atoms morgen oder in einer Million Jahre einsetzte, war absolut unvorhersehbar, es geschah stets völlig zufällig, und es war müßig, nach einer Ursache zu fragen, es existierte keine.

 Der Roman hat den Deutschen Krimipreis 2009 erhalten, was mich zum Kauf verführt hat. Das Werk überzeugte die Jury, weil es „auf charmante, humorvolle und versierte Art und Weise der Wahrheit auf den Grund geht“. So ein nichtssagender Schmarrn! Von Wahrheit und Auf-den-Grund-Gehen ist keine Rede. Trotzdem: Gut geschrieben, unterhaltsam zu lesen.

 http://www.deutscher-krimipreis.de/

 2008     360 Seiten 

 

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