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Christian Pernath:
Ein Morgen wie jeder andere
In der Bretagne kann es auch einmal heiß sein, aber meist ist es neblig oder es regnet leicht und deshalb werden die Leute oft ein wenig melancholisch oder trinken oder beides. Diesmal ist es der Tierarzt Bélouard, der nach der Trennung allein lebt, aber doch viele Leute kennt, vor allem solche, die auch Tiere zum Behandeln haben. Bélouard ist dicklich, unglücklich, schüchtern und hat seinen Glauben an alles verloren. Ein typischer Sonderling, wie er für einen Krimi in der französischen Provinz gebraucht wird.
Eine ganze Bauernfamilie wird umgebracht und Bélouard findet auf der Fahrt zu einem Kunden im Straßengraben eine schwerverletzte Frau, die er mit zu sich nach Hause nimmt. Es entwickelt sich langsam eine Beziehung zwischen Bélouard und Claire. Der Tierarzt wird eher unwillig in die Mordermittlungen hineingezogen und auch Claire, die dabei ist, seine Einsamkeit zu mildern, wird ihm immer rätselhafter.
Am Montag begann es zu regnen. Ein feiner, grauer Regen in einem trostlosen Himmel; der dünne Regenschleier löschte alles aus, und die Luft roch nach nasser Erde. Es hatte kein Morgenrot gegeben. Die Straßen waren menschenleer. Die Scheibenwischer auf der Windschutzscheibe des Kombis schlugen hin und her. Bélouard parkte in der Sackgasse und lief zu seiner Praxis; brühte sich Kaffee. Am Montagvormittag brauchte er eigentlich nicht dort zu sein, aber er kam immer.
Und nun?, fragte er sich.
Ihm war traurig ums Herz.
Ja sicher, das Wetter; aber nicht nur.
Am Tag zuvor, nachdem sie Saint-Marc verlassen hatten, waren Claire und er noch zur Côte Sauvage zurückgefahren, hatten sich in der Nähe von Croisic eine Pizza an einem Imbisswagen gekauft und sie am Strand gegessen. Bis spät in die Nacht waren sie dort sitzen geblieben. Etwas weiter weg hatten ein paar junge Leute ein Feuer angezündet und angefangen zu trommeln; Belouard hatte Claire gezeigt, wie man in Afrika tanzt. Zu dem Zweck hatte er sich bis auf die Unterhosen ausgezogen, eine Decke um die Hüften geschlungen und dann den wilden Neger gespielt. Claire hatte so sehr gelacht, dass ihr Tränen in die Augen geschossen waren. Später, im Auto, war sie dann eingeschlafen, wobei ihr Kopf auf seine Schulter sank. Er hatte kaum noch gewagt, sich zu rühren, und in den Kurven das Lenkrad nur mit der linken Hand festgehalten, um die rechte nicht bewegen zu müssen.
Seit Langem hatte er keinen so schönen Tag mehr erlebt.
Und nun?, fragte er sich. Dieser Flirt mit dem Glück, von dem er wusste, dass es keine Zukunft hatte, riss einen Abgrund in ihm auf. Zumindest an diesem Morgen; und vielleicht hatte das Wetter seinen Anteil daran.
Doch das war nicht alles. Es gab da noch etwas anderes. Etwas, das mit Claire selbst zu tun hatte – ihre ganze Art, ihre verstörenden Bemerkungen, ihre manchmal unerklärlichen Reaktionen. Er verspürte eine merkwürdige, undefinierbare Beklemmung, es war wie eine Intuition, für die er jedoch keine Worte fand. Ein dumpfes, aber hartnäckiges Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte.
“Bélouard treibt auf einen Abgrund zu, aber er stürzt nicht ab. Zuletzt ist er einfach wieder ganz allein. Es ist, als ob gar nichts passiert wäre. Das ist das Schlimmste.” (Der Tagesspiegel)
Obwohl manches an andere Krimis aus der Bretagne erinnert, liest sich das Buch angenehm. Es kommt zu einer überraschenden Aufklärung, wobei die Motive dennoch in ihrer Eigentümlichkeit etwas klischeehaft sind. Kolja Mensing vergleicht den Roman im Tagesspiegel mit den romans durs von George Simenon, jenen Romanen, die ohne Maigret auskommen und „unter dem Deckmantel einer vermeintlich leicht erzählten Geschichte tatsächlich einen gnadenlosen Blick auf die dunkle Seite der menschlichen Seele“ werfen.
2006 220 Seiten
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