Nachrichten vom Höllenhund


Giordano
22. Oktober 2009, 18:28
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Paolo Giordano:

Die Einsamkeit der Primzahlen

“Primzahlen sind nur durch 1 und durch sich selbst teilbar. Sie haben ihren festen Platz, eingeklemmt zwischen zwei ande­ren, in der unendlichen Reihe natürlicher Zahlen, stehen dabei jedoch ein Stück weiter draußen. Es sind misstrauische, einsame Zahlen. Deshalb fand Mattia sie auch wunderbar und dachte manchmal, dass sie irrtümlich in dieser Folge, aufgereiht wie Perlen einer Halskette, gelandet waren. An­dere Male dachte er, dass sie vielleicht gern wie alle anderen gewesen wären, einfach beliebige Zahlen, was ihnen aus wel­chen Gründen auch immer aber nicht gelang. Dieser zweite Gedanke kam ihm vor allem abends, in dem chaotischen Geflecht von Bildern, die dem Schlaf vorausgehen, wenn das Hirn zu müde ist, um sich noch selbst zu belügen.”

Alice bricht sich bei einem Skiunfall das Bein, das steif bleibt. Mattia verlässt im Park seine kleine Zwillingsschwester und sie ertrinkt. Alice und Mattia grenzen sich von den Abgründen des Lebens ab, sie lassen niemanden mehr an sich heran, weder die Eltern noch Freunde. Alice isst nichts mehr, Mattia schneidet sich die Haut auf und stürzt sich ins Lernen und in die Mathematik, um seine Sinne frei von weiteren Eindrücken zu halten. Bis sich Alice und Mattia in der Schule begegnen. Sehr langsam geht Alice auf Mattia zu, sehr langsam öffnet sich Mattia ein wenig.

25 Jahre war Paolo Giordano, als er den Roman schrieb, der mit dem wichtigsten italienischen Literaturpreis – dem Premio Strega – ausgezeichnet wurde. Vor allem junge Leute sollen sich für den Roman begeistert haben, sagt Maike Albath in ihrer SZ-Kritik. Das überrascht nicht, sind die Hauptpersonen ja selbst noch jung. Giordano beobachtet sie in einzelnen Episoden über 24 Jahre lang und wechselt dabei in jedem Kapitel die Perspektive. Seltsam ist, dass sich „eine ganze Generation“ in „dieser Wohlstandsverwahrlosung“ (SZ) wiederzuerkennen meint. Denn es steht schlimm um Mattia und Alice. Sie sind innen und außen ausgetrocknet, sie können nichts sagen, weil es ihnen die Kehle zuschnürt. Sie haben aber auch keinerlei Blick auf die Wirklichwelt außerhalb ihrer Beschränkungen. Die Gesellschaft spielt keine Rolle, auch nicht das Berlusconische Italien. Ist die Jugend zu schwach, um den Blick zu heben, zu selbstverliebt in ihre Schwäche?

“In einem Seminar im zweiten Semester hatte Mattia gelernt, dass einige Primzahlen noch einmal spezieller als die anderen sind. Primzahlzwillinge werden sie von Mathematikern ge­nannt: Paare von Primzahlen, die nebeneinanderstehen oder genauer, fast nebeneinander, denn zwischen ihnen befindet sich immer noch eine gerade Zahl, die verhindert, dass sie sich tatsächlich berühren. Zahlen wie 11 und 13, wie 17 und 19 oder 41 und 43. Bringt man die Geduld auf, weiter und weiter zu zählen, stellt man fest, dass solche Pärchen immer seltener werden. Man stößt auf immer weniger Primzahlen, die verloren dastehen in diesem lautlosen, monotonen, nur aus Ziffern bestehenden Raum, und es beschleicht einen das beklemmende Gefühl, dass die Pärchen, die einem bis dahin begegnet sind, rein zufällig zusammenstanden und dass es eigentlich ihr Schicksal ist, allein zu bleiben. Aber dann, wenn man schon aufgeben und nicht mehr weiterzählen will, stößt man auf ein weiteres Pärchen von Zwillingen, die sich, eng umschlungen, aneinander festhalten. Mathematiker sind davon überzeugt, dass man, egal wie weit man fortschreitet, immer wieder solchen Zwillingen begegnen wird, obwohl niemand sagen kann, wo sie stecken, bis man sie tatsächlich gefunden hat.“

Für Mattia waren sie beide, Alice und er, genau dies, Prim­zahlzwillinge, allein und verloren, sich nahe, aber doch nicht nahe genug, um sich wirklich berühren zu können. Er hatte ihr diesen Gedanken noch niemals anvertraut, und wenn er sich vorstellte, wie er ihr davon erzählte, verdampfte die dünne Schweißschicht auf seinen Händen vollends, sodass er zehn Minuten lang keinerlei Gegenstände mehr berühren konnte.”

Die Sprache ist knapp, kühl, nüchtern, sachlich. Auch damit erzeugt Giordano diese kalte Stimmung, aus der die Romanpersonen und auch der Leser nicht herauskommen. Bedrückend.

Man weiß, dass Mattia und Alice keine /Zukunft haben und dennoch hofft man. Giordano ist selbst Physiker. auch das merkt man seinem Schreiben an, besonders bei den Vergleichen.

Mattia hatte recht behalten: Tag für Tag war die Zeit wie ein Lösungsmittel über Alices Haut hinweggestrichen, und jeder einzelne hatte eine hauchdünne Schicht von ihrer Tätowie­rung sowie von beider Erinnerungen daran abgetragen. Die Umrisse – wie auch die Umstände – waren zwar noch da, schwarz und klar gezeichnet, doch die Farben waren ineinan­der übergegangen und zu einem matten, einheitlichen Farb­ton, zu einer neutralen Bedeutungslosigkeit, ausgeblichen.

Die Jahre auf dem Gymnasium waren für beide wie eine ständige Wunde gewesen, zu tief, als dass sie jemals hätte heilen können. Wie mit angehaltenem Atem hatten sie die Zeit durchlebt, Mattia, indem er die Welt mied, und Alice, indem sie sich von der Welt gemieden fühlte, und dabei hat­ten beide festgestellt, dass dies kein großer Unterschied war. Zwischen ihnen war eine Freundschaft entstanden, ungleich und unvollkommen, mit vielen Pausen und langem Schwei­gen, aber ein leerer, sauberer Raum, in den sie sich flüchten konnten, um durchzuatmen, wenn die Mauern der Schule zu nahe rückten, um das Gefühl, ersticken zu müssen, ignorieren zu können.

Doch mit den Jahren hatten sich die Wunden ihrer Jugend geschlossen, hatten sich unmerklich, doch stetig die Wund­ränder einander angenähert. Weitere Verletzungen hatten die Kruste abgeschürft, die sich jedoch immer wieder neu bildete, fester und dunkler als zuvor, bis schließlich eine neue glatte, dehnbare Hautschicht die verlorene Haut ersetzt hatte. Die Narbe, zunächst rosafarben, war immer weißer geworden und schließlich mit allen anderen Narben verschmolzen.

Nun lagen sie auf Alices Bett, sie mit dem Kopf am oberen, er am unteren Ende, beide mit unnatürlich angewinkelten Beinen, um sich mit keiner Körperstelle zu berühren. Alice überlegte, dass sie sich umdrehen könnte, um mit den Zehen­spitzen seinen Rücken zu berühren und dabei so tun, als wenn es unabsichtlich geschehen sei. Aber sie war sich fast sicher, dass er sofort von ihr wegrücken würde, und wollte sich diese kleine Enttäuschung ersparen.

Keiner der beiden hatte daran gedacht, Musik aufzulegen. Gar nichts hatten sie im Sinn, außer einfach nur dort zu liegen und zu warten, dass der Sonntagnachmittag vorüber­ging und der Zeitpunkt gekommen wäre, wieder etwas Not­wendiges zu tun, wie zu Abend zu essen, zu schlafen und eine neue Woche zu beginnen. Durch das geöffnete Fenster fiel ein gelbes Septemberlicht zu ihnen ins Zimmer und brachte ein ununterbrochenes Rauschen von der Straße her mit.

Als sich Alice aufs Bett stellte, schwankte die Matratze nur ein klein wenig unter Mattias Kopf. Die Hände zu Fäusten geballt und in die Hüften gestemmt, schaute sie Mattia von oben herab an, mit strenger Miene, die von ihren ins Gesicht fallenden Haaren verborgen wurde.

Der Roman ist wohl auch gut als Schullektüre geeignet.

 Leseproben und weitere Infos gibt es hier.

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