Mirko Bonné: Wie wir verschwinden
“Großer Herr Jesus Christus, es geht doch gar nicht um Delphine oder um den unseligen Tag dieses unseligen Unfalls, um Albert Camus oder eine Draisine!”, sagte Robertine, ohne dass wir das abgesprochen hätten. Sie war jetzt ernstlich böse. “Um was geht es? Raymond! Würdest du bitte endlich, endlich damit rausrücken, dass es um Véronique geht.”
Es ist eine Eifersuchtsgeschichte. Véronique war die Jugendliebe von Raymond und seinem Freund Maurice. Sie heiratete Raymond, ist aber vor ein paar Jahren gestorben. Seither ist Raymond allein, leicht depressiv und auch krank. Er muss sich mit den Lebens- und Liebesproblemen seiner erwachsenen Töchter herumschlagen, als ihn ein Brief des todkranken alten Maurice erreicht. Er weigert sich, den Brief zu lesen, weil er befürchtet, dass die alten Wunden wieder aufbrechen, dass er die mühsame Balance seines Lebens verliert.
Diese Alltagsprobleme stehen im Mittelpunkt des Romans und Bonné beschreibt sie genau und anschaulich. Man sitzt mit Raymond und seiner verbliebenen Familie in der Küche und im Garten und hört ihnen bei ihren Streitereien zu. Aber der Roman hat weitere Ebenen und die sind sehr raffiniert miteinander verbunden und aufeinander bezogen. Ich hab nicht alles gleich und manches erst am Schluss kapiert. Zunächst haben mich diese Konstruktionen etwas gestört, der Schluss versöhnt die Handlungsstränge und fasst sie nochmals unter dem Leitbegriff des (sich) Verlierens zusammen.
Da ist zunächst das Zurückdenken Raymonds an seine Jugend, stets verbunden mit den Ängsten und Unsicherheiten, ob die Liebe seiner Frau Véronique nicht bis zu ihrem Tod seinem “Freund” Maurice galt. Raymond reflektiert als Erzähler das Sich-Entfernen:
Es war unwahrscheinlich, dass Jeanne mit allen Vorwürfen, die sie Andre machte, recht hatte. Man lebte sich auseinander, das hieß immer, dass zwei sich voneinander entfernten, zwei, die zuvor zu eng aufeinandergehockt hatten. Zu eng war es aber nie für nur einen. Die Enge war niemandes Glück, ein enges Glück war nichts anderes als Unglück.
Ich wusste das aus meiner Ehe mit Veronique, in der wir dennoch zusammengeblieben waren. Aber ich hatte es auch vorher schon gewusst. Maurice und ich waren über Jahre so eng aufeinander bezogen gewesen, dass kein anderer zwischen uns Platz gehabt hatte, keiner neben noch über oder unter uns, kein Vater und keine Mutter, kein anderer Freund und kein Mädchen passte in unsere Freundschaft, die alles von einer Liebe hatte, alles, außer dass sie auch körperlich gewesen wäre.
Nein, dachte ich, als ich hinunterging, sie ist nicht körperlich gewesen, auch wenn ich alles an Maurice so geliebt habe, wie ich später alles an Veronique liebte, die Nase, die Stirn, die Augen und so weiter, alles, was ich auch an mir liebe, weil es zu mir und sonst niemandem gehört und nicht anders ist, als es ist.
Was ich immer, noch ganz bis zum Schluss, daran liebte, mit Veronique zu schlafen, war das Gefühl, zugleich mit ihr und mit mir selbst zu schlafen – das Gefühl, mich selbst lieben zu dürfen, indem ich sie liebte, mich ganz zu haben und mich dann wieder verlieren zu können, wo sie doch dablieb.
Dazubleiben, wo die Enge war, die Enge aufzulösen und doch dazubleiben, das war mit Veronique möglich. Andre und Jeanne schien es nicht möglich zu sein, und auch Maurice und mir war es unmöglich gewesen. Uns war nichts anderes übrig geblieben, als diese fatale Zweisamkeit, die keinen Ausweg bot, gemeinsam zu sprengen. Die Maschine des großen Verschwindens … dafür stand sie, dafür hatten wir sie, und als wir es nicht schafften, mit der Draisine Abstand zu gewinnen, Abstand von uns selbst und voneinander, Abstand von allem, was zu viel eng war – was blieb da?
Ich griff mir mit jeder Hand eine von Jeannes Taschen und trug sie hinüber zur Terrassentür.
Die Enge blieb. Und was wurde aus ihr? Sie wurde noch enger. Und das Unglück darüber machte alles Recht und Unrecht ununterscheidbar. Falls sie es jetzt noch nicht spürt, dachte ich, als ich in der Tür stand und in den leeren Garten hinaussah, dann wird Jeanne es sehr bald spüren: Eine Trennung, so heilsam sie anfangs sein mag, bedeutet immer auch, dass die Hälfte von einem selbst verloren geht – als hätte man mit dem anderen, den man aufgibt, die Kraft zu unterscheiden verloren.
Immerhin in einem Punkt hatte Jeanne recht: Es war kurz nach sechs und Andre nicht mehr da. Ich ging zurück und holte die restlichen Taschen, dann brachte ich alle hinüber ins Gästehaus. Der Jeep mit den Fahrrädern auf dem Dach, die über die Hecke gesehen hatten, war verschwunden.
Es gibt noch eine dritte Ebene, zunächst nur durch den Ort des Geschehens auf die anderen bezogen. Raymond und Maurice verbrachten ihre Jugend in Villeblevin – nahe Paris – und sie bauten auf einem verlassenen Bahngleis eine Draisine, um mit ihr aus der Provinz zu verschwinden. Die Flucht scheitert, nicht zuletzt deshalb, weil zeitgleich auf einer nahen Straße ein Unfall passiert, bei dem der Dichter Camus ums Leben kommt, verschwindet. Maurice schildert diesen Unfall in Superzeitlupe und schickt diese Erzählung an Raymond. Als Raymond, gedrängt von seinen Töchtern und seiner Nachbarin Robertine, die Briefe doch noch liest, kommt es kurz vor Maurice’s Tod zur Versöhnung und zur Versicherung, dass Véronique nicht untreu war.
Bonné verweist am Schluss auf die Fiktionalität alles Geschehens. Die Rezensenten haben viele Anspielungen erkannt, etwa auf Truffaut- oder Rohmer-Filme, auf die Autos der 50er-Jahre, auch mythische Dimensionen des Romans. Der Roman „ist nicht frei von Längen und altersweiser Behäbigkeit, aber auch voll französischer Leichtigkeit“, meine ich mit Martin Halter in der FAZ.
2009 340 Seiten
Auch einen anderen Roman über die späte Wiederbegegnung zweier Schulfreunde, die aus den vorgezeichneten Bahnen ausbrachen und sich auch zeitlebens nicht sicher waren, wen die Jugendfreundin eigentlich geliebt hat, hab ich gerne gelesen:
Gerd-Peter Eigner: Die italienische Begeisterung
Kommentar verfassen so far
Hinterlasse einen Kommentar