Nachrichten vom Höllenhund


Lalli
1. November 2009, 18:27
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Marco Lalli:

Die Nacht wird deinen Namen tragen

Marco Lalli, 1954 in Massa geboren, verbrachte seine ersten Lebensjahre in Italien. 1962 kam er nach Deutschland. Heute ist er als Sozial- und Umweltpsychologe tätig und lebt in Leimen bei Heidelberg. Aus der Literatur scheint Marco Lalli verschwunden zu sein. Er hat noch seine Homepage mit Infos zu den zwei Romanen, aber sie ruht seit 2003.  [P.S. Marco Lalli hat seine Homepage aufgefrischt. Auf der schönen Seite kann man sich die Romane und auch seinen neuen: „Niemand schlafe“ kostenlos herunterladen!]

Den angesimmelten Titel des Romans kann man auch singen, was misstrauisch machen sollte. Die Liebe steht im Mittelpunkt, es ist aber eine Liebe in schwierigen Zeiten. Und zwar in drei Epochen der deutsch-italienischen Geschichte. Schauplatz ist ein Badeort in der Gegend um Carrara, der Marmor-Stadt. Hier betreibt die Familie die Pensione Moderna und in dieser Sommerfrische treffen sich im Jahr 1925 „Menschen aus ganz Europa. Vor allem Männer, junge Männer.“ Unter ihnen ist auch der Deutsche Maximilian von Kampen, Max. Er verschaut sich in die siebzehnjährige Tochter Laura und verspricht ihr die Ehe, er will bloß noch einmal zurück nach Hamburg, um dort seine Verlobung aufzulösen.

Als er wieder nach Portoclemente zurückkehrt, sind 18 Jahre vergangen und in Deutschland und in Italien herrscht der Faschismus. Max ist Wehrmachtsoffizier, Lauras Eltern und Geschwister schwanken zwischen Opportunismus und Partisanenkampf, nicht immer ist mir und den Beteiligten klar, auf wessen Seite sie stehen. Laura jedenfalls steht dazwischen; Max macht sie zu seiner Hausgehilfin, Lauras Familie erhofft sich Spitzeldienste. Erst nach dem Krieg kommen Max und Laura nach Italien zurück und gründen eine Familie. Lalli erzählt die Familiengeschichte weiter bis zum Tod. Lauras Geschwister sind verstört durch ihre politischen Rollen, die die Zeitgeschichte für sie bereithielt, die Kinder führen den Kampf in der Lotta Proletaria weiter, auch sie wissen meist nicht, was mit ihnen gespielt wird.

Lalli erzählt konventionell, beschreibt die Landschaft, das Meer, die Personen und ihre Freuden und Probleme anschaulich: Max beim Wasserskifahren 1925, die lizzata, den gefährlichen Transport eines riesigen Marmorblocks als Geschenk für den Duce, den Partisanendschungel, die Feste und die Liebe und den Tod.

Über den Bergen hing die dünne Sichel des abnehmenden Mondes. leuchtete rötlich wie ein Stück Orangenschale. Das Meer lag schwarz und endlos und unbeweglich da, eine undurchdringliche Fläche, die je­des Fünkchen Licht zu verschlucken schien, an den Sternen zehrte und am Mond, sodass man meinte, sie könnten jeden Augenblick ganz ver­löschen. Einzig die Wellen, die sich mit einem leisen Fauchen brachen und den Kies auf ihrem Weg hinauf und hinunter leise rieseln ließen, klangen vertraut.

Maximilian hatte es in seinem Bett nicht mehr ausgehalten. Laura war kurz nach Mitternacht aufgestanden, um zurück in ihr Zimmer zu gehen. Sie hatten sich gestritten, so wie einige Male zuvor in den letz­ten Tagen. Laura war in Sorge um ihren Bruder Stefano gewesen, eine alte Angst, die sie seit dem Tod Vieris Jahr um Jahr zurückgedrängt hat­te und die jetzt wieder aufgebrochen war, mit Stefanos abermaliger Flucht neue Nahrung gefunden hatte und auch ihn, Maximilian, mehr und mehr mit einschloss. Hinzu kam, dass die Zukunft, die sie sich Nachmittag für Nachmittag, Nacht für Nacht ausgemalt hatten, zu ver­blassen begann. Eine Zukunft, die zu einem beliebigen Traum gewor­den war, je häufiger sie sie beschworen hatten. Seit Tagen hatten sie nicht mehr über ihre gemeinsamen Pläne gesprochen, und so, wie diese Zukunft schwand, begann auch ihre Gegenwart zu verblassen. Als be­dürfe sie notwendigerweise einer Fortsetzung, als bemesse sich ihr Wert nach dem, was irgendwann möglich wäre, begann sie zu schrumpfen, eine durchscheinende Membran, die der überhand nehmenden Vergan­genheit nur noch wenig Widerstand entgegensetzen konnte. Und auch seine Beteuerungen, seine Versprechen schienen sich abgenutzt zu ha­ben, schienen sie nicht mehr zu überzeugen.

Je länger er im Sand lag, umso wärmer wurde ihm. Über ihm die Sterne, hinter ihm die Berge, vor ihm das Meer. Und sonst nur Sand, endlos wie eine Wüste. Er war allein, und für einen Augenblick wünschte er sich, so allein zu sein, wie er sich fühlte, keine Laura und keine Anne, keine Eltern, keine zwei Lebenslinien, die sich vor ihm öffneten, breit wie Straßen. Eine von ihnen würde er beschreiten, und so viel versprechend beide schienen, seine Entscheidung bedeutete auch unweigerlich das Ende für die jeweils andere. Und es war dieses Ende, das an ihm zerrte, der Abschied, den er nehmen musste, der ihm die Entscheidung unmöglich machte. Eines dieser Leben musste er be­graben, und er fühlte sich außerstande zu entscheiden, welches.

Schön zu lesen. Ein politischer Familienroman, in dem Lalli nicht direkt Stellung nimmt, sondern alle seine Personen eher als Opfer sieht.

2003      320 Seiten 

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Marco Lalli: Die Himmelsleiter

Auf seinen umfangreichen Literatur- und Film-Seiten referiert Dieter Wunderlich den Inhalt ausführlich.

Thomas Heilant (!) erzählt in wechselnden Zeiten von seiner Freundschaft zu Massimo Altomonte (!), von den bewegten Heidelberger Studentenzeiten bis zur Wendezeit Ende der 80er, als Heilant Journalist und Altomonte Nobelpreisträger ist. Die Zeitgeschichte vermischt sich mit Altomontes Versuchen zu Schwingungstheorien und der Radikalisierung Alessandras, der Dritten im Bunde. Das ist alles interessant und stimmig, wenn auch nicht immer ganz stilsicher, erzählt.

Die Komposition nimmt sich etwas zu viel vor, denn Lalli lässt einen Toten einen Todesfall aufklären, verwurstelt die Chaostheorie und legt seine Geschichte als Krimi an, ein bisschen Sex inbegriffen. Ziemlich ärgerlich, dass auch noch Vollkommenheit und Weltvernichtung und Allmachtsphantasien ins Spiel gebracht werden.

Vielleicht waren die Erinnerungen, die ich im Kopf hatte, war alles, was bisher geschehen war, selbst die Explosion vor ein paar Stunden, in jenem kurzen Augenblick entstanden, in dem Altomontes Maschine ihr Schöpfungs- oder Zerstörungswerk vollbracht hatte. Wo aber war dann er? Konnte es ein vollkommenes oder auch nur besseres Universum ohne Massimo Altomonte geben? Und konnte die Welt, die ich jetzt sah, tatsächlich so etwas wie Vollkommenheit für sich beanspruchen? Das erschien mir unmöglich. Lieber wollte ich glauben, dass ich es war, der dieses leckgeschlagene Schiff gerettet hatte. Vielleicht war es nur ein Aufschub, bis es irgendwann tatsächlich unterging, doch bis dahin war ich ihr Retter.

1996          225 Seiten (Tabu)

 

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Marco Lalli: Niemand schlafe

 Er stellt sich Martin Dorint als einen jungen und durchschnittlich begabten Arzt vor, als jemanden, der Anerkennung, Erfolg, vielleicht auch Liebe sucht. Jemand, der sich nach oben arbeiten will, der, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammend, zur Elite der Stadt und darüber hinaus gehören will, aufsteigen will. Ein Mann, der sich danach sehnt, berühmt zu werden und reich und vielleicht auch mächtig.

Hatte es so angefangen? Er besitzt nur sehr wenig Anhaltspunkte, um eine ausführliche Beschreibung von Martin Dorints Werdegang anzufertigen, aber heute ist es ihm nicht wichtig, der Wahrheit in allen Einzelheiten gerecht zu werden, er braucht ein Bild, eine Vorstellung von diesem Menschen, den er so lange schon beobachtet, ohne ihm innerlich wirklich nahe gekommen zu sein. Wie konnte es weiter gegangen sein?

Je länger er darüber nachdenkt, umso deutlicher meint er, eine ganz alltägliche Karriere vor sich zu sehen. Die Beziehungen, die Martin Dorint nutzt: sein Freund, der Anwalt, andere Mitglieder der Burschenschaft, in der er als Student gewohnt hat, Kommilitonen vielleicht, die es bereits zu etwas gebracht haben, auch Parteifreunde, der ganz normale Zirkel, der die Stadt zusammen hält und in Bewegung.

Der junge Arzt lässt sich nieder, beginnt Geld zu verdienen, heiratet eine schöne Frau, mit der er auch ein wenig angeben kann, hat mit verschiedenen anderen kleine und große Affären. Seine Praxis floriert, die Anzahl seiner Angestellten steigt. Katrin Raabe tritt auf den Plan. Dr. Dorint verdient noch mehr Geld. Er wird älter. Der immer noch junge Psychiater und Neurologe liebt schnelle Autos und gutes Essen. Er hat eine Schwäche für Opernmusik und einen Sohn.

Er macht sich einen Namen, und auf seiner Couch liegen keine Kassenpatienten mehr, sondern die einflussreichsten Persönlichkeiten der Stadt. So erfährt er von vielen Dingen, von Hintergründen und von kleinen Geheimnissen und vielleicht auch von einigen großen. Bald hat er noch mehr Beziehungen, die er spielen lassen kann und noch mehr Geld.

So hätte es weitergehen können: mehr Beziehungen, mehr Geld, mehr Macht, von allem etwas mehr von Jahr zu Jahr, bis er irgendwann alt und grau geworden, sein Ziel erreicht hätte und eine der respektierten Persönlichkeiten der Stadt geworden wäre.

Martin Dorint setzt seine Mnemotherapie für einen Tag aus und er kann sein bisheriges Leben ordnen, weil er sich nicht an den Therapiedetails abarbeiten muss. Marco Lalli setzt seinen Roman auf Seite 145 für einen Moment aus und bietet dem Leser, der wie der Protagonist die Zusammenhänge aus den Augen verloren hat, eine Zusammenschau.

Der „psychoanalytische Entwicklungsroman“ ist raffiniert konstruiert, die verflochtenen Persönlichkeitsmerkmale lassen sich aber nicht leicht entwirren. Man liegt mit Martin Dorint in der Klinik, ist bei ihm, als er auf der Feier zu seinem 50. Geburtstag angeschossen wird, nimmt an der Mnemotherapie teil, die die Bruchstücke seines Lebens zu einer Identität verbinden soll, regt sich auf, weil dieser Martin Dorint nur sich im Kopf hat, auch wenn er sich in seiner imaginierten schwarz-weiß Biographie als Genie und Arsch darstellt.

Was mir bis zuletzt fehlt, ist das Interesse an dieser Figur Dr. Martin Dorint. Er bleibt mir gleichgültig, gewinnt als Prototyp des karrieresüchtigen Aufsteigers keine Konturen, auch sein Fall lässt kalt. Muss ich den Egomanen mögen, wenn er im Koma liegt?

 Sein wahres Ich, sofern es das überhaupt gibt, denkt er, sein wahres Leben liegt irgendwo dazwischen, vielleicht näher am verabscheuungswürdigen Martin Dorint als am bewundernswerten, aber jetzt fühlt er sich stark genug, sich diesem zu stellen.

Das ist seine einzige Chance jemals wieder aus dem Koma zu erwachen Das begreift er jetzt. Erst wenn er zu sich selbst findet, das Chaos in seinem Kopf zu einem zusammenhängenden Bild ordnet, zu einer Identität, dann wird er wieder aufwachen. Und er weiß auch, dass er auf dem richtigen Weg ist.

Und so wird er weitermachen müssen oder von vorne anfangen, mit oder ohne Mnemographie, und er hofft, jemand wird ihm dabei helfen.

 Ich bin nicht jemand. Ich glaube ihm nicht.


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