Nachrichten vom Höllenhund


Hahn
4. November 2009, 14:27
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Anna Katharina Hahn: Kürzere Tage

Leonie verzweifelt am Doppelleben als Karrierefrau und Mutter. Judith findet Halt in der Anthroposophie. (Klappentext) Beide sind um die dreißig, beide haben studiert, beide haben Familie, beide leben in Stuttgart. Ihr Leben haben beide ganz gegensätzlich eingerichtet. Trotz dieser Gegensätzlichkeit hab ich sie immer wieder verwechselt, musste nachschauen, wem Mann und Kinder gehören. Aber das liegt an mir. Oder an Stuttgart. Anna Katharina Hahn wechselt kapitelweise von Leonie (1) zu Judith (2).

In den geordneten Bahnen verlaufen sich natürlich die Träume vom Glück. Man hat sich eingerichtet, hält anderen und auch sich selbst gegenüber die Fassaden aufrecht. „Doch nachts helfen nur die Tabletten.“ (KT) Anna Katharina Hahn erzählt sachlich und nüchtern von den zwei Akademiker-Familien und ihren Abgründen, die Katastrophe kommt aber von außen (3).

(1) Leonie hat den Kindergarten St. Anton ausgesucht. Es war ganz klar für sie, daß ihre Mädchen dorthin gehörten, wo der Heilige seinen segnenden Holzarm im Flur erhebt und die Mitar­beit am bienenübersummten Blumenpuzzle des Fronleichnams­teppichs zum Programm zählt. Simon, der Heide, hat nichts da­gegen. »Solange du mich mit dem Laden verschonst! Meine Mut­ter ist von denen so schlecht behandelt worden. Vater unbekannt, damit wurde sie fertiggemacht« Es gibt sicher anspruchsvollere Möglichkeiten, seinen Nachwuchs unterzubringen: Singkreise mit Frühenglisch, regelmäßige Waldwochen oder gar spielzeugfreie Zeit werden in St. Anton nicht angeboten. Die Leiterin trägt graue Dauerwellen und läßt sich von den Kindern »’Tante« nennen. Die Mädchen fühlen sich wohl, und neben der katholischen Senti­mentalität gaben die Betreuungszeiten, von 7:3o bis 17 Uhr, den Ausschlag.

 (2) Judith sitzt auf der Bank neben den Rosen. Es sind alte Büsche mit verholzten Stämmen, selbst die schmalsten Triebe sind mit Dornen besetzt. Dazwischen hängen die Hagebutten wie kleine Lampions. Über den hölzernen Klapptisch hat Judith eine karierte Decke gebrei­tet, darauf stehen ein Teller mit Äpfeln und Judiths verbeulte Thermoskanne. Zu Hackstraßenzeiten war sie, mit starkem Kaf­fee gefüllt, ihre ständige Begleiterin durch den Uni-Alltag. Heute enthält sie Früchtetee. Die Kinder rennen durch den Blätterberg. Der neblige Morgen ist einem sonnigen Nachmittag gewichen. In neun Wochen ist Weihnachten, und der Himmel ist von einem so durchscheinenden Hellblau, als ob hinter ihm schon Schneewol­ken warteten.

Das Gärtle ist nicht groß. Vielleicht 200 Quadratmeter liegen zwischen der Rückseite des Hauses, in dem Judith und Klaus mit den Kindern wohnen, und der nächsten Häuserreihe, die auf die vielbefahrene Olgastraße zeigt. In der Lücke dazwischen, gefüllt mit betonierten Höfen mit Parkplätzen und Müllcontainern, ist das Gärtle eine der letzten grünen Stellen. Im Geviert der hohen Sandsteinwände bleibt Wärme lange stehen. Im Sommer kühlen lange Schatten. Judith hat hier unten ein beschütztes Gefühl, wie im Innenhof einer Burg. Die Mauern verhindern, daß der Blick schweifen kann. Es gibt nur den Himmelsausschnitt, über den Wolken, Vögel und Flugzeuge ziehen. Ein Himmel, der über allen aufgeht und nichts verrät. Er könnte genausogut über einer ande­ren Stadt, einem anderen Land liegen. Klaus lästert manchmal über das »Knastgärtle«. Judith lacht dann mit, verrät ihm nicht, daß ein einzig vom Horizont begrenztes Stück Land ihr nicht die gleiche Geborgenheit vermitteln könnte wie dieser von fünfstöcki­gen Altbauten eingefriedete Stadtgarten.

(3) Marco wischt sich mit dem Jackenärmel über den Mund und über den Nasenrücken, auf dem Schweißtropfen stehen. Er schwitzt, obwohl er friert wie verrückt und zittert in der dicken Jacke. Er ist völlig von der Rolle und fummelt schon wieder in der Tasche nach dem Geld. Es ist noch da, wieder rechts-links-rechts geglotzt – wenn das so weitergeht, landet er in der Klapsmühle, bevor er einen Fuß in den Zug gesetzt hat. Aber er hat echt Pro­bleme mit der Scheiße von vorhin, den Idioten im Laden, Näzim und den anderen, der Rothaarigen aus der Superwohnung. Erst als sie schrie, hat er gemerkt, daß er sie kennt. Eine grüne Strumpf­hose hatte sie damals angehabt. Ihr Gesicht war echt hübsch, die Augen, der kleine Mund. Fast hätte er >Hallo< gesagt oder >Hey<, sie war ihm gar nicht aufgefallen, er hatte nur den zeternden Nä­zim gesehen, der sofort still wurde, als er die Pistole sah.

Wieder ein Buch über die Fragwürdigkeit von Familien, bei denen nicht das fehlende Geld die Sorgen macht. Mit ihrer lakonischen Erzählweise schafft Anna Katharina Hahn Distanz zu den Personen. Wahrscheinlich gibt es viele solcher Frauen zwischen Business, Ökobewusstsein und katholischer Sentimentaltität. Meinem Klischee nach leben sie vor allem im Südwesten Deutschlands. Auch Anna Katharina Hahn wohnt dort. Aber auch wenn einem das Personal auf den Geist geht, der Roman ist dennoch lesenswert.

2009       220 Seiten

 http://www.perlentaucher.de/buch/31621.html

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