Nachrichten vom Höllenhund


Gustafsson
23. November 2009, 21:34
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Lars Gustafsson:
Frau Sorgedahls schöne weiße Arme

Ich brauche nicht zu verreisen. Ich bin schon da.“ –

Es sind viele schöne Sätze eingebettet in die schweifenden Gedanken des emeritierten Professors, und wie es wohl so ist, wenn man älter wird, gehen viele der Gedanken zurück in die Jugend, hier sind es die 50er-Jahre in Schweden. Erzählt wird vom Geruch der Zimtbirnen, vom guten Studienrat Westerberg, Dufvenbergs Hund, Dörfern und Häusern und Seen und Stürmen und Ingela, der Tochter des Gießers, die erste unbeholfene Liebe.

 Es ist wahrscheinlich, dass etwas Unwahrscheinliches eintrifft, behauptet, wie wir uns alle erinnern, Aristoteles in seiner Poetik. Jedenfalls bin ich der Ansicht, dass das eine einigermaßen statthafte Übersetzung ist. Mein Kol­lege Myles Burnyeat hier in Oxford hätte vielleicht etwas Besseres anzubieten. Aber ich sage es so: Es ist wahr­scheinlich, dass etwas Unwahrscheinliches eintrifft. Ei­gentlich ist das natürlich falsch. Ein einzelnes Ereignis kann keine Wahrscheinlichkeit besitzen. Wie auch im­mer: Etwas Unwahrscheinliches geschah tatsächlich. Ich bekam ganz unerwartet eine Chance, nicht nur mit ihr zu reden, sondern sie anzufassen, ihre Düfte wahrzuneh­men. An einem Nachmittag unten an den Briefkästen. Sie bekam einen Platten, Ingela, die Tochter des Gießers. In der kiesbestreuten und staubigen Kurve oberhalb von unserer Grundstückgrenze, auf dem Weg zu den Brief­kästen. Das Fahrrad, das nicht ganz leicht zu handhaben war, kam ins Schleudern, und sie bremste mit einem Fuß im Kies, verlor das Gleichgewicht und schrammte sich den Ellbogen auf.
Natürlich rannte ich hin und bot meine Dienste an. Bezeichnenderweise bat ich sie nicht in das Sommer­häuschen meiner Eltern, sondern lief einen Schwamm, Wassereimer und Pflaster holen.
Es war keine große Schürfwunde, aber es gefiel mir sehr, sie zu versorgen. Sie verströmte so viele interes­sante Düfte, nach sonnengebräunter Haut, nach Sham­poo, nach Mädchen.
Erstaunlicherweise jammerte sie nicht, während ich mit dem Schwamm die Steinchen aus der Wunde wusch. Das war der Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, als ich sah, wie geduldig, fast ein wenig höhnisch sie sich mit diesem Schmerz abfand. Zugleich erlaubte sie es mir mit einer Art von überlegener Miene, als ginge sie eigentlich nichts von alledem, weder der Unfall noch meine immer enthusiastischere Wundbehandlung, et­was an.
Erst als ich das Heftpflaster- nach ein paar missglück­ten Versuchen, weil das an einem Ellbogen keine ganz leichte Sache ist – an seinen Platz bekommen hatte, schaute sie mir tatsächlich ins Gesicht.
Sie hatte eine geblümte Bluse und einen hellen, ziemlich abgetragenen Rock an, der Spuren von Johan­nisbeersaft trug. Ihre Füße waren staubig.

Der Erzähler erinnert sich nicht an alles, aber an vieles genau. In der Erinnerung ist die Vergangenheit gegenwärtig, es macht keinen Unterschied, ob das jetzt geschieht oder vor 50 Jahren. „Wenn das so weitergeht, werde ich in meiner eigenen Vergangenheit ertrinken – die Erinnerungen werden genauso konkret, genauso detailliert geschildert werden wie das Gegenwärtige.“ Der Erzähler  – bzw. Gustafsson – selbst reflektiert das Erinnern und die Wahrscheinlichkeiten des Lebens und lässt den Leser so teilhaben an der Entstehung der Gedanken beim Denken. Die Zeit ist ein “Möbiusband”: „Alles beginnt überall. Es gibt keine besondere Stelle, die der Anfang ist.“ Alterweisheit, wenn es sie gibt, könnte sie so aussehen. Das Glück im Verzicht auf Erwartungen in einem Jenseits. „Warum dieses Gerede vom ewigen Leben?“, hält er dagegen. „Der Mensch hat ja ein ewiges Leben, solange er nicht tot ist. Ist er tot, kann er ja nicht leben. Aus dem einfachen Grund, weil es ihn nicht gibt. Und wozu sollte es gut sein, nach dem Tod weiterzuleben?“ Franziska Augstein in der Süddeutschen Zeitung: Gustafssons spielerischer Umgang mit Philosophie, Theologie und Sinnlichkeit ist mitreißend, poetisch und hochamüsant.

Und Frau Sorgedahl?

Damals muss sie etwas über dreißig gewesen sein.
So, wie sie damals war, hätte sie die Tochter dessen sein können, der ich heute bin. Mit Leichtigkeit. Aber ich habe keine Töchter.
Frau Sorgedahl – war sie schön? Ich erinnere mich an ihre roten Haare und ihre weichen, weißen Hände, als sie behutsam den Rücken der Katze streichelte, die da auf meinem Schoß lag. Freilich war sie schön. Sehr schön. Das Schönste, was ich bis dahin gesehen hatte.
Mittlerweile träume ich ziemlich viel. Das macht viel­leicht das Alter. Die Kindheit kehrt in der Form von Träumen zurück. Das Sommerhäuschen, klein und braun an seinem allzu steilen Hang. Der Brennball, den wir auf dem erschreckend großen Schulhof mit seinen duften­den Balsampappeln spielten. Der stechende Schmerz, wenn man ausrutschte und das Knie über den Kies schrammte. Die Aussicht vom Volksschulzimmer aus, so hoch da droben in dem alten roten Ziegelhaus, dass wir praktisch in den Kronen der Kastanienbäume saßen. All die sonderbaren Typen, die sich damals auf den Straßen herumtrieben.

2008      240 Seiten

1-2

Andere schöne Romane von alten Männern bzw. über sie und ihre Gedanken daran, wies früher war:

Per Petterson:  Pferde stehlen
Gerbrand Bakker:  Oben ist es still


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