Gianrico Carofiglio: Reise in die Nacht
Avvocato Guido Guerrieri, frisch geschieden und geschüttelt von einer tiefen Lebenskrise, übernimmt einen fast aussichtslosen Fall: Er verteidigt einen des Mordes angeklagten Immigranten aus dem Senegal, der ohne seine Hilfe verloren wäre. Es beginnt ein nervenzerreißender Kampf gegen rassistische Vorurteile, eine voreingenommene Justiz und eine erdrückende Last von Indizien … (Klappentext)
Guerreri ist der inzwischen typische Aufklärer, nicht zu tough, aber doch wage-mutig, persönlich schwankend zwischen loser und Genussmensch, sich lakonisch- ironisch seiner Lage und seines Könnens bewusst, Literatur, Musik, Speis und Trank durchaus zugeneigt. Nichts Besonderes.
Das Besondere und speziell Italienische ist sein Fall: Eher widerwillig und weil er sich beweisen will, übernimmt er die Verteidigung des senegalesischen Strandhändlers Abdou Thiam, der beschuldigt wird, einen kleinen Jungen missbraucht, umgebracht und in einen Brunnenschacht geworfen zu haben. In geschickten Plädoyers gelingt es ihm – fast zu spielerisch – den Rassismus der süd-italienischen Gesellschaft, die Trägheit der Polizei und die Parteilichkeit der Justiz bloßzustellen und mit dem Prozess auch neues Selbstbewusstsein zu gewinnen. Und natürlich gibt es auch noch Margherita.
Gianrico Carofiglio war selbst Antimafia-Staatsanwalt in Bari. „Es ist großartig, wie ruhig, klar und doch bewegend er eine Geschichte erzählt. Alle Fakten liegen von Beginn an auf dem Tisch, nichts Unerwartetes geschieht und doch entsteht eine ungeheure Spannung.“ (Christine Westermann im WDR). Schön ist, dass die Gesellschaftskritik nicht aufgesetzt ist, sondern sich in der Handlung und auch in Avvocato Guerrieri allmählich entwickelt.
Avvocato Guerrieri ist inzwischen zum Serien-Helden geworden, Gianrico Carofiglio zu einem der geschätztesten Krimiautoren in Italien.
»Ich bin Avvocato Guerrieri und verteidige den Angeklagten Herrn Thiam. Bitte beantworten Sie die Fragen, die ich Ihnen gleich stellen werde, kurz und kommentarlos.«
Meine Stimme klang ätzend, aber das war beabsichtigt. Ich wollte ihn reizen, ihn dazu verleiten, sich eine Blöße zu geben, in die ich dann ganz gezielt einen Treffer setzen konnte. Genau wie beim Boxen.
Rennas Schweinsäuglein musterten mich kurz, dann wandte er sich an den Vorsitzenden.
»Herr Vorsitzender, muss ich das eigentlich? Ich meine, einem Anwalt seine Fragen beantworten?«
»Ja, Herr Renna, das müssen Sie«, erwiderte Zavoianni, aber seine Miene verriet, dass er auf mich und auf den Großteil der Anwälte gern verzichtet hätte. Ich konnte trotzdem einen kleinen Vorteil verbuchen. Der Barmann hatte angebissen und war aus der Deckung gegangen.
»Also, Herr Renna, Sie haben vor dem Staatsanwalt ausgesagt, dass Sie Herrn Thiam am frühen Abend des 5. August 1999 rasch in nord-südlicher Richtung an Ihrer Bar vorübergehen sahen. Ist das richtig?«
»Ja.«
2002 290 Seiten
Gianrico Carofiglio:
Die Vergangenheit ist ein gefährliches Land
Weil ihm so fad ist, wendet sich der Sohn aus gutem Hause, Giorgio, vom Studium ab und einem „Soziopathen“, Francesco, zu, einem Falschspieler, Kokainisten und Dealer und Serienvergewaltiger (ein spoiler – aber es ahnt sich früh). Das verschafft für eine Zeit einen gewissen Kick, entlastet den gering selbst Denkenden und Handelnden Giorgio von der Verfolgung eines Lebensentwurfs und gibt Carofiglio Gelegenheit, sein Wissen übers Kartentricksen auszubreiten. Giorgio aber ist ein Nichtsnutz, er langweilt und weckt kein Interesse, sein Leben, das sich „sinnentleert voranschleppt“, bleibt mir so egal wie das des Minimephisto Francesco. Anstatt Francesco als Verführer vorzuführen, fügt Carofiglio das „psychologische Profil“ der Gerichtsverhandlung ein. Giorgio hat kein Schicksal und kein Interesse an seiner Abschweifung und seinem weiteren Leben verdient.
Ich war für viele Monate wie aus der Bahn geworfen. Ich habe kaum eine Erinnerung an diese Zeit. Ich weiß nur, dass mir häufig übel war und dass ich frühmorgens, wenn es noch dunkel war, von Panik erfüllt erwachte.
Dann nahm ich ohne besonderen Anlass mein Studium wieder auf.
Der Roman könnte als Schreibübung gelesen werden, doch auch hier erweist sich das Buch als reichlich hohl. Die meisten Frauen sind zudem nicht gerade hübsch, aber sympathisch.
Nachdem wir gegessen hatten – natürlich Paella valenciana, mit etlichen Bieren -, erkundeten wir die Stadt.
Wir zogen durch die Bars, die alle geöffnet hatten und rappelvoll waren. So gelangten wir in einen Garten mit Tischen im Halbdunkeln, einem Kiosk in der Mitte, sehr vielen Leuten an den Tischen, im Stehen, auf der Erde sitzend. Haschischgeruch waberte in der Luft. Wir fanden einen leeren Tisch und setzten uns. Anders als während der Reise redeten wir beide sehr viel. Wir waren euphorisch. Wir redeten aufeinander ein, ohne auf das zu hören, was der andere sagte. Wortschwälle über unsere Freiheit, unser rebellisches Leben jenseits heuchlerischer Regeln. Über unsere Suche nach der Bedeutung dessen, was sich hinter der schalen Oberfläche der Konventionen verbarg. Konventionen, die wir im Namen einer Ethik ablehnten, die den meisten Menschen unzugänglich war.
Alles überflutender Schwachsinn.
Die Kellnerin, die an unseren Tisch kam, sagte hola, aber einen Augenblick später, als sie uns reden hörte, wandte sie sich auf Italienisch an uns.
Sie war aus Florenz, um genau zu sein aus Pontassieve, und hieß Angelica. Sie war nicht schön, hatte aber ein sympathisches Gesicht. Sie sah Francesco an. Sie fragte uns, woher wir seien, sagte, dass sie nur auf der Durchreise nach Griechenland einmal in Bari gewesen sei und dass man sie vor Handtaschenräubern gewarnt habe. Sie nahm unsere Bestellung auf, während sie weiter Francesco ansah, und versprach, sofort wieder da zu sein.
Vielleicht habe ich auch nach „Reise in die Nacht“ etwas anderes oder Besseres erwartet, vielleicht habe ich auch nicht konzentriert genug gelesen. Ich bring ja nicht einmal den Titel in den Zusammenhang mit dem Roman.
2004 285 Seiten
![]() 4- |
1 Kommentar so far
Hinterlasse einen Kommentar
„Die Vergangenheit ist ein gefährliches Land“ von Carofiglio ist, wenn auch deutlich anders vom Strickmuster, noch intensiver unter die Haut gehend geschrieben. Dringende Leseempfehlung 🙂
Kommentar von martinclemens78 1. April 2010 @ 14:34