Nachrichten vom Höllenhund


Wagner
26. Dezember 2009, 18:15
Filed under: - Belletristik

David Wagner: Vier Äpfel

Auf seiner Rolltour linksherum durch den Supermarkt lässt der „Erzähler“ keine Warengruppe aus, sinniert über deren Verpackungen, über vorhandene oder nicht vorhandene Gerüche, über die Platzierungen der Artikel.

Soweit ist das noch kein Roman. Wagner will keine Kritik der Warenästhetik, bemerkt aber doch aktuelle ökologische und psychologische Komponenten des Angebots. Das liest man schon gern, weil einmal das Buch nicht dick ist und auch weil man das ja alles selbst gesehen und erlebt hat: den allmählichen Wandel der Pflegelinien mit dem plötzlich nicht mehr zu findenden Shampoo fürs Normalhaar, den subtilen Wandel der Flaschen, die Darbietungsformen von Backwaren, die immer globalere Zusammensetzung des Obst- und Gemüsesortiments. Station für Station begleitet Wagners alter Shopper den Leser in kurzen Kapitelchen bis zur Kasse. Man wird beim nächsten Einkauf manches noch genauer betrachten, man wird sich die Fortschritte beim Kundenfang weiterdenken: Weshalb gibt es neuerdings freistehende Regale mit Designergewürzen? Weshalb steht auf jedem Kracherl Wellness drauf? –

Was „vier Äpfel“ doch fast zu einem Roman macht, sind die vielen Assoziationen und Reflexionen. Nahezu jedes Produkt erinnert den Flaneur an seine Ex L. – „ich weiß ja, L. kauft hier nicht mehr ein“ – und ihren Gebrauch der Waren- zur Formung ihrer Lebenswelt. Seit ihn L. verlassen hat, hat er Zeit zum Einkaufen. Der Supermarkt wird ihm zum Heim und zum Studienobjekt, zur „Archäologie des Lebens“ (Helmut Böttiger in der SZ), das Kaufen und das Staunen darüber werden zum eigentlichen Lebensmittelpunkt, denn brauchen tut man das Zeug eigentlich nicht. Die ständigen Gedanken an L. nerven zeitweise, geben aber Hinweise darauf, dass verschiedene Herangehensweise an den Konsum möglich erscheinen und dass womöglich darin der Grund für die Trennung zu finden ist. Nervig ist für ältere Leser auch, dass der gerade 38-jährige Wagner so viele Erinnerungen an die 50er Jahre einstreut – oft auch in den 52 Fußnoten.

 Auf einem Sonderpostentisch mitten im Gang sehe ich eine auffällig geformte, von unten her breiter werdende, sich nach oben hin jedoch wieder verjüngende Flasche mit einer großen, weißgeriffelten Verschlußkappe. Ich kenne diese Fruchtsirupflasche, deren Kappe als Dosierhilfe und Meßbecher dienen soll, ich habe sie bloß fünfundzwanzig Jahre, vielleicht auch länger, nicht mehr gesehen. Ich stehe vor einem Zombie, einer untoten Marke, die nun zurück ins Sortiment möchte, als wäre sie nie weggewesen, ich aber falle auf diese Anbiederung nicht herein. Ich erinnere mich, daß die Verschlußkappe mit ihrer Mikrokannelierung, de­ren Rillen ich mit dem Daumennagel gern entlanggefahren bin, meist schon nach der ersten Benutzung innen, wo das Gewinde sitzt, und am unteren Rand verklebt war. Merk­würdig, ich erinnere mich an die Klebrigkeit dieses Sirups, nicht aber daran, wie das Getränk, zu dem er sich mit Wasser strecken ließ, schmeckte, Kappe und Flaschenhals waren jedenfalls genauso verschmiert wie die je nach Her­steller hellblau- oder rosafarbenen Weichspülerflaschen, die ganz ähnliche, ebenfalls als Meßbecher zu benutzende …

 Am interessantesten sind die Blicke in die Einkaufswägen und auf ihre Schieber. Die Waren liegen offen im Wagen und auf den Kassenlaufbändern und stellen damit Privates ungeschützt – wenn man nicht Edleres über das Klopapier drapiert – zur Schau. Das Schauen in Nachbars Wagen ist ein Einbruch in die Intimsphäre, das Produktarrangement verrät Existenzielles, verleitet aber möglicherweise auch zur Prätention:

 Sie sieht aus wie die Supermarktkassiererin in ei­nem Film, der davon handelt, daß ein Mann jeden Tag in einen Supermarkt geht, weil er sich in die Frau an der Kasse verliebt hat. Wartet meine Lieblingskassiererin etwa darauf, von hier weggeheiratet zu werden? Träumt sie davon, eines Tages vom richtigen Mr. Right, ihrem Traummann, dem Prinzen, angesprochen zu werden und mit ihm auf seinem stolzen Roß ins Land der Erfüllung aller Wünsche zu rei­ten? Will es vielleicht mein Schicksal, daß ich heute hier um ihre Hand anhalte? Könnte ich dann endlich L. ver­gessen? […] Ich habe mich schon einmal gefragt, ob ich sie nicht mit einer Auswahl be­sonders ausgefallener Produkte beeindrucken könnte. Wo­möglich habe ich schon angefangen, manche Dinge bloß zu kaufen, weil ich in ihrem Ansehen steigen möchte? Kaufe ich deshalb keine Tiefkühlpizza mehr und manchmal sogar frisches Gemüse? Könnte ich sie mit einer außergewöhn­lichen, magischen Zusammenstellung von Lebensmitteln dazu bringen, aufzustehen, alles liegen zu lassen und mit mir durch die Schiebetür zu verschwinden? Was müßten das für Produkte sein?

 Die Liebe geht durch den Wagen. (Ist das von mir?) Nachdem er sich nochmals vom Duft der “vorgefertigen Teiglinge” hat betören lassen, kuppelt er seinen Einkaufswagen wieder an, nimmt die Münze heraus, steckt sie zum übrigen Kleingeld und geht hinaus ins Freie. “ Die Zukunft aber reicht nur bis zum Mindesthaltbarkeitsdatum” (Böttiger)

2009        160 Seiten

http://www.perlentaucher.de/buch/32868.html

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