Nachrichten vom Höllenhund


Stegner
4. Januar 2010, 21:23
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Wallace Stegner: Die Nacht des Kiebitz

Platons Höhle mit Wassertherapie. Ich musste an die Bemerkung von Willa Cather denken, dass man das Sonnenlicht nicht malen kann, nur die Schatten, die es an die Wand wirft. Wenn man nach Selbsterkenntnis strebt, wie es uns Sokrates seit so vielen Jahrhunderten beizubringen versucht – befasst man sich dann wirklich mit dem eigenen Leben oder nur mit den Schatten, die es auf das Leben der anderen wirft? Geht es um die Dinge oder um die Beziehungen zwischen den Dingen? Um objektive Realität oder um den Fluchtpunkt einer Betrachtung aus verschiedenen Perspektiven? Um das Prisma oder um den Regenbogen, den es erzeugt? Und was, wenn man die Wand ist? Wenn man nie einen eigenen Schatten geworfen, einen eigenen Regenbogen erzeugt hat, sondern nur das auffängt, was andere einem zuwerfen?

Joe Allston war Literaturagent, ist jetzt im Ruhestand und lebt mit seiner Frau Ruth im kalifornischen Hinterland. Er ist mit seinem jetzt beschaulichen Leben zufrieden, wird aber doch beunruhigt durch die zunehmende Nachlässigkeit des Körpers. Er setzt sich in seiner Art lakonisch damit auseinander, weiß, was kommen wird und tut deshalb kaum etwas dagegen.

 Ruth hingegen, nachdem sie mich, wie sie glaubt, an den Schreibtisch verbannt hat, geht hinaus in die Welt und ereifert sich über Umweltzerstörung, die paranoiden und snobistischen Beschlüsse unseres Stadtrats, die Veranstaltungen der League of Women Voters, die Macken der Grünen. Einmal wöchentlich besucht sie das Pflegeheim (Siechenhaus, Todeslager) und liest den Insassen vor. Ein paarmal habe ich sie dort abgeholt und kam unter Schock wieder heraus. Wie sie es aushält, einen ganzen Vormittag unter diesen erloschenen, vor sich hin tappenden Greisen zu verbringen, im Wissen, dass es ihr und mir in wenigen Jahren ebenso ergehen wird, übersteigt meine Begriffe.

Dann trifft eine Postkarte aus Dänemark ein und es beginnt die zweite Geschichte. Die Hauptpersonen sind dieselben, aber 20 Jahre jünger, die Absenderin ist Astrid W/K. Anstatt seine Biographie zu schreiben, holt er die Tagebücher aus der Truhe, die er zu Zeiten des Dänemark-Urlaubs geschrieben hat. Damals heimlich, jetzt liest er sie allabendlich seiner Frau vor. Was sie in Dänemark, der Heimat von Joes Mutter erleben, ist reichlich abstrus. Die verarmte Gräfin, bei der sie sich einmieten, hat eine abenteuerliche Geschichte, die sie ihnen nach und nach offenbart. Da geht es um Inzest-Experimente, angestellt von Vater und Bruder der Gräfin und eingebettet in den Nazi-Rassenwahn. Die Dänemark-Erlebnisse schieben sich zwischen und vor den Alltag des alten Paares, sie wühlen die Gefühle auf, die Joe abgestorben wähnte, sie klären aber auch die Beziehung.

Es schien jetzt angebracht, sie zu küssen, dort im Mondlicht zwischen den Eichen, vor den Augen der geisterhaften Osterglocken. Sie schmiegte sich an mich und küsste mich wie frisch verliebt. »Ach, Joe«, sagte sie, »sei nicht unglücklich, sei nicht bedrückt. Wir haben großes Glück. Stell dir vor, wir wären allein. Stell dir vor, wir wären wie Tom und Edith.«

»Das kommt erst noch.«

»Sag nicht solche Sachen.« […]

Halb spielerisch, halb verlegen strich sie mir mit der Hand über den sterilen Schädel. […] Die angenehmen Seiten einer solchen Aussprache bestehen darin, dass man mal wieder so richtig bemuttert wird. […]

Das treffendste Bild für das Leben, so meine ich, ist der Vogel bei Beda Venerabilis, der aus dem Dunkel ins helle Zimmer geflogen kommt und nach einer Weile wieder ins Dunkle hinausflattert. Aber Ruth hat recht. Es bedeutet schon etwas – und kann alles bedeuten -, einen Mitvogel gefunden zu haben, mit dem man in den Dachbalken sitzen kann, während unten gezecht, geprahlt, rezitiert und gestritten wird; einen Mitvogel, für den man sorgen kann, dem man Körner und Raupen bringen kann, der dir die Wunden salbt und die zerzausten Federn richtet und dich tröstet und bedauert, wenn du zufällig in etwas hineingeflogen bist, was zu viel für dich war.

Wallace Stegner ist Pullitzer-Preisträger, “Die Nacht ds Kiebitz” erhielt 1977 den National Book Award. Stegner erzählt unaufgeregt und damit im Sinne seines Protagonisten, einem der “liebenswerten” (Stefan Hochgesand in der 3sat-Kulturzeit) alten Männer, die auf ihr Leben zurückblicken, dort Bewegendes finden und damit “die Zeit totschlagen, bevor die Zeit sie totschlägt”. Solche Bücher lese ich inzwischen gerne.

1976                  280 Seiten

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