Markus Zusak: Die Bücherdiebin
Der Raum schrumpfte. Es herrschte ein Maß an Stille, von dem sie nie gedacht hätte, dass es möglich war. Die Stille dehnte sich aus, wie ein Gummiband, das nur zu gerne gerissen wäre. Das Mädchen durchbrach sie.
»Darf ich? «
Die beiden Worte standen auf einem unendlich weiten, mit Holz belegten Feld. Die Bücher waren kilometerweit weg. Die Frau nickte.
Ja, du darfst.pfte, bis die Bücherdiebin die Regale mit ein paar kleinen Schritten erreichen konnte. Sie fuhr mit dem Handrücken das erste Regal entlang und lauschte dem rhythmischen Ticken, das ihre Fingernägel auf den abgerundeten Buchrücken verursachten. Es klang wie ein Instrument, das Geräusch rennender Füße. Sie nahm beide Hände. Sie veranstaltete ein Wettrennen. Ein Regal gegen das nächste. Und sie lachte.
Ihre Stimme entfaltete sich, hing hoch in ihrer Kehle, und als sie endlich aufhörte und mitten im Raum stehen blieb, verbrachte sie einige Minuten damit, zwischen den Regalen und ihren Fingern hin und her zu schauen.
Wie viele Bücher hatte sie berührt?
Wie viele hatte sie gefühlt?
Sie ging wieder hin und tat es noch einmal, diesmal viel langsamer, diesmal die Handfläche den Büchern zugewandt, ließ sich von der kleinen Hürde eines jeden Buchs das Fleisch ihrer Hand verschieben. Es fühlte sich an wie ein Zauber, wie Schönheit, getaucht in strahlende Linien aus Licht von einem Kronleuchter. Mehr als einmal hätte sie fast ein Buch von seinem Platz genommen, aber sie wagte nicht, sie zu stören. Sie waren einfach vollkommen.
Der Tod und das Mädchen. Das Mädchen schreibt sein Tagebuch, das der Tod findet, es der alten Frau zurückgibt und jetzt dem Leser als Tod erzählt, was geschah. Das klingt nach Konstrukt, ist es auch, erscheint schließlich aber nicht nur plausibel, sondern sehr poetisch. Poetisch ist auch die Sprache. Immer machen sich die Wörter und Töne selbständig, hängen im Raum oder steigen in den Himmel, berühren, im doppelten Sinn. Der Himmel ist sehr weit, oben, aber er hat ein Refugium auf der Erde, die Himmelstraße in Molching. Dort lebt Liesel bei ihren Stiefeltern, dort lebt ihr Freund, der „Saukerl“ Rudi, und dort sterben auch alle bei einem Bombenangriff am Ende der Nazizeit. Liesel und ihre Leute sind die Guten, oft sehr Guten trotz äußerer Grobheiten, die Nazis sind die Bösen, und das ist auch richtig so, aber doch ein bisschen schwarzweiß.
Liesel ist die „Bücherdiebin“, aber es dauert lange, bis sie lesen lernt, bis das Bücherstehlen zum Mittel des Überlebens wird und Liesel auch zum Schreiben treibt. Was in den „gestohlenen“ Büchern steht, ist nicht so wichtig (?), aber man kann es vorlesen, z.B. bei Luftangriffen, wenn alle im Keller versammelt sind. Zusak erzählt sehr anschaulich, auch langatmig, es gibt ja auch zu viele wichtige Episoden, obwohl der Roman „eigentlich bloß ein schmales Bändchen werden“ sollte (Klappentext).
Das erste Mal war es weiß. Gleißend.
Einige von euch werden wahrscheinlich denken, dass Weiß gar keine Farbe ist. Völliger Blödsinn. Das stimmt nicht. Weiß ist zweifellos eine Farbe, und ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass ihr mit mir streiten wollt.
Ja, es war weiß.
Es war so, als ob der ganze Erdball in Schnee gekleidet wäre. Als ob er ihn angelegt hätte, so wie ihr einen Pullover anzieht. Neben der Bahnstrecke verliefen Fußspuren, eingesunken bis zum Schienbein. Die Bäume trugen Decken aus Eis.
Wie ihr euch vielleicht schon gedacht habt, war jemand gestorben.
Ich habe mir auf den ersten 200 Seiten oft überlegt, das Buch wegzulegen. Lästig war mir das langsame Voranschreiten, lästig die ständigen Ansprachen des Todes, der den Leser an die Hand nimmt und ihn durchs Buch führt, lästig auch die poetisierende Sprache.
Es ist ein Buch für Kinder. Es ist ein gutes und wichtiges Buch für Kinder, wenn sie die Geduld haben für 600 Seiten. Es ist ein gutes und wichtiges Buch für Jugendliche.
Und solche Bücher sollen natürlich auch Erwachsene lesen. Ich habe es nicht bereut.
2006 590 Seiten
Lange Leseprobe, Infos und links vom Verlag
Rezension radiergummi-blog | Rezension dradio
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Ich habe auch Zusaks Roman “Der Joker” von 2002 gelesen. Auch das ist poetisch und spannend erzählt. Auch hier geht es darum, dass es gute und schlechte Menschen gibt und dass es doch viel schöner wäre, wenn alle gut wären oder sein könnten. Eigentlich recht sonderbar für einen Schriftsteller aus dem Jahrgang 1975.
Der Australier Markus Zusak ist innerhalb kurzer Zeit der zweite junge englischsprachige Autor, der die Geschichte Nazi-Deutschlands (Österreichs) verarbeitet hat. Wie John Wray in „Die rechte Hand des Schlafes“ erzählt er von Erlebnissen seiner Eltern – allerdings mit völlig anderen Mitteln und Absichten.
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