Nachrichten vom Höllenhund


Boëtius
8. Februar 2010, 21:00
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Henning Boëtius: Tod in Weimar

 Siegmund von Arnim (18), der Sohn von Bettina von Arnim, besucht im März 1832 den alten Goethe (82) und ist damit dessen letzter Gast. Das ist verbürgt.

Goethe stirbt am 22. März 1832; auch daran ist nicht zu zweifeln.

Henning Boëtius denkt sich da einen Zusammenhang. Könnte der Besuch des Jungen nicht Ursache für den Tod des Alten sein? Weit hergeholt? Wurscht.

Boëtius beschreibt detaillliert und intim den verschrumpelnden Goethe. So genau will man das eigentlich gar nicht sehen. Aber Boëtius’ Goethe stellt sich dieser Schmach:

Wie schal steht es angesichts dieser Fakten um die dumme Forderung der Humanisten, ein schöner Geist ge­höre in einen schönen Körper! Wollte er sie er­füllen, dann hätte er in seinem Kopf sämtliche Ideale und erhabenen Gedanken mit billigen Zo­ten, grauenhaften Lügen und lächerlichen Vorur­teilen zu vertauschen. Nein, in einem häßlichen Körper kann der Geist durchaus noch eine be­scheidene Ansehnlichkeit wahren. Davon ist jedenfalls angesichts dieses Leibes auszugehen, von dem er wünschte, es sei nicht sein eigener, sondern der eines toten Bettlers in der Anatomie.

Er wäscht diesen Körper wie schon lange nicht mehr, denn er will mit dem Jüngling eine Kutschfahrt durch Weimar zu seinem Gartenhaus machen. Annäherungen deuten sich an, lassen sich nicht vermeiden, werden durch Rumpelwege dichter.

Sie stehen vor dem Glücksstein. Ein großer Steinquader, auf dem eine Steinkugel ruht. »Agathe Tyche. Fortuna. Die Göttin des Glücks und des Zufalls. Zumeist wird sie als Frau mit dem Füllhorn, dem Steuerruder und dem Rad dargestellt. Dies hier ist meine Version. Der Würfel und die Kugel, begreifen Sie? Es ist die das ganze Dasein durchdringende Dualität: Das Beharrende und die Bewegung, beide müssen sie sich vereinigen. Dort, wo die Kugel den Quader berührt, entwickelt sich eine unvorstellbare Kraft der Vereinigung der Gegensätze. Was ist unser Schicksal anderes als die Wirkung, die diese Kraft erzeugt!«

 Eine „Vereinigung“  Goethes mit Siegmund ist nicht verbürgt. Boëtius versucht deren Plausibilität zu erklären. Er bemüht dazu Goethes Vorliebe für „schöne Jünglinge“ und „Frauen im Leib eines Knaben“ und er (er)findet einen Grund für Siegmunds Besuch: Dessen Mutter, Bettine von Arnim, hatte sich vor Jahrzehnten Goethe nicht nur an den Hals geschmissen und will jetzt ihre Liebesbriefe zurück, um sie vermarkten zu können – und Bettines Mutter Maximiliane bezeichnet Boëtius als Goethes „einzige große Liebe“, die ihm „wie ein androgyner Engel“ vorgekommen war.

Die Novelle ist ein Spiel mit Anspielungen, interessant vielleicht nur, wenn man etwas von Goethe weiß oder wissen will – über den greisen Goethe zwischen Verkalkung und Selbstglorifizierung – oder über seine Variationen über die Dualität der Geschlechter.

Natürlich erinnert der Titel an den „Tod in Venedig“. Auch hier erlebt der Alte eine letzte Amour fou, bei der er sich den Tod holt. Auch hier weiß der Alte so viel, dass er bildungsbürgerlich erklären, umschwurbeln und verdrängen kann. Auch hier verspielte Fiktion. Aber Weimar ist nicht Venedig.

1999        115 Seiten         mit Illustrationenen von Johannes Grützke

 

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