Dirk Kurbjuweit: Nicht die ganze Wahrheit
Ich erzähle eine Geschichte, die Geschichte einer Beziehung, einer Liebe vielleicht, ich bin Schriftsteller, Regisseur, Komponist. So kann man es kaum jemandem erklären, man würde Gelächter ernten, aber ich kann es fühlen, denken. Ich schreibe eine Geschichte, ich inszeniere eine Geschichte, ich komponiere eine Geschichte. Je eleganter, desto besser.
Man muss nur wissen, was man will. Was ist das Ziel? Erhaltung? Zerstörung? Erhaltung, unbedingt. Nicht weil Anna dann frei ist. Ich habe geträumt. Auch der Detektiv hat seine Träume. Aber er ist Realist, er kennt die Liebe und deren Möglichkeiten. Er weiß, wer sich zum Paar findet und wer nicht. Kaum einer weiß das besser.
Der Detektiv Arthur Koenen konstruiert die Geschichte, indem er mitfühlend die Lügen und Illusionen, was das selbe ist, entlarvt. Dazu schnüffelt er sich in die Mails der beiden Protagonisten ein, des Parteivorsitzenden Leo Schilf und der jungen gleichparteilichen Abgeordneten Anna Tauert. Er gewieft, vorbelastet, moralisch noch nicht ganz abgeschrieben, aber doch der „Raison“ der Partei verpflichtet und natürlich auch seinem Kanzlerfreund, dem „Fred“, dem schnellen Schlucker und eifrigen Skater, zugetan. Sie unerfahren, naiv, noch ehrlich und moraltreu, deshalb „Parteirebellin“, und natürlich auch Schilf, ihrem „Mentor“, verfallen. Ihre Wege kreuzen sich für 58 Sekunden in der Verborgenheit des Aufzugs der Parteizentrale, ihre Worte und Gedanken in den Mails, die sie im Interesse des Romans für mitleseresistent halten müssen, ihre Ansichten in kontroversen Haltungen zum Gesetz über den Zahnersatz. Solange Anna gegen diese „Abwrackung des Sozialstaats“ ist, darf sie sich über ein bisschen Zuwendung freuen, sogar vom Rotwein des Kanzlers nippen. Das eine Gesetz steht dabei pars pro toto für die Ausrichtung des Sozialstaats. Damit werden die Positionen exemplarisch, aber das ist nicht das zentrale Thema.
Man erfährt nichts Neues über Parteienhackordnungen, Loyalitäten, Politikbetrieb in Berlin, was man nicht schon aus anderen Medien wüsste, findet es aber bestätigt und freut sich darüber, auch, weil man heimlicher Mitleser bei den geklauten Mails sein darf.
Im Rahmen seiner Ermittlungen begleitet man Koenen ins Parteihauptquartier, zu Besprechungen und auf Wahlkampfveranstaltungen. Da er als Detektiv am Rande steht, beobachtet er genau und kann Distanz wahren. Und er plaudert auch über seine Berufserfahrungen, man könnte was über Menschenkenntnis lernen.
Jeder neue Auftrag beginnt mit einer Paranoia. Ich sehe überall Frauen, die mit dem Mann, den ich beobachten soll, ins Bett gehen könnten. Ich sehe eine Welt voll Ehebrechern, sobald ich einen Vertrag abgeschlossen habe. Das heißt nicht, dass ich mir keine Gedanken gemacht habe, welcher Typ von Frau in Frage kommt. Ich nenne das mein profiling, ich schaue mir die Kerle an und überlege, welche Vorlieben sie haben könnten. Ich habe zwei Anhaltspunkte, den Mann und die Frau, meine Auftraggeberin. Ich habe zwei Theorien dazu, die Schönheitsklassentheorie und die Gegensatztheorie. Mit der ersten liege ich meistens richtig. Ein gutaussehender Mann geht zwar zur Not mal mit einer hässlichen Frau ins Bett, aber er nimmt sie nicht als Geliebte. Als Geliebte nimmt er eine Frau, die mindestens der gleichen Schönheitsklasse angehört wie er selbst und wie seine Frau. Ich sage mindestens, weil der gleiche Satz für Frauen nicht gilt, jedenfalls nicht so kategorisch. Sie gucken auch nach anderen Dingen, Macht, Geld, man weiß das ja. Aber wenn ich die Geliebte eines Mannes suche, schaue ich mir nur die Schönheitsklassen aufwärts an. Obwohl man auch Überraschungen erleben kann, weshalb man dann doch niemanden außer Acht lassen darf. Trotzdem ist die Schönheitsklassentheorie hilfreich, denn es geht in meinem Beruf auch um Wahrscheinlichkeiten.
Das Wesentliche aber steht in den Mails, vor allem in denen Annas. Sie vertraut den Start „der Anna“ in die Welt der großen Politik ihrem großen Versteher Schilf an, den sie sich als „Geliebten“ zurechtträumt.
Sie antwortet rasch: «Soll ich dir das sagen, wenn wir fünfundzwanzig Sekunden Zeit haben und der letzte Kuss eine Ewigkeit zurückliegt? Es ging um unsere Liebe und nicht um Politik, und sei nicht so gemein zu mir, es ist mir nicht leichtgefallen, diese Entscheidung zu treffen, aber ich musste sie treffen, weil es Spiegel gibt in meiner Wohnung, und da steht immer eine Frau, jeden Morgen und jeden Abend, und die guckt mich an, die Frau, und sie hat schon ein paar kleine Falten rechts und links der Augen, ist dir das schon mal aufgefallen?, und die Frau guckt immer so kritisch, so prüfend, und wenn ihr etwas nicht gefällt, dann starrt sie ganz seltsam, und diesem Blick muss ich standhalten, j eden Morgen und j eden Abend, und das ist nicht leicht, und deshalb habe ich mich so entschieden, wie ich mich entschieden habe, aber nicht gegen dich, überhaupt nicht gegen dich, unsere Liebe ist größer als die Politik, denk daran, Leo, denk immer daran, und deshalb darfst du nicht sagen, dass ich dir gestohlen bleiben kann, denn das stimmt nicht, weder ich dir noch du mir. Wir beide, du und ich, wir, werden nicht an diesem Kanzler scheitern, das werden wir einfach nicht. Versprich mir das, ja?»
Er antwortet nicht. Sie schreibt fünfmal hintereinander. Nach drei Minuten: «Antworte mir.» Nach vierzehn Minuten: «Leo?» Nach sechsundzwanzig Minuten: «Bitte.» Nach einunddreißig Minuten: «Bittebitte.» Nach zwei Stunden und fünfundzwanzig Minuten: «Fuckyou.»
Am nächsten Tag meldet sich Leo abends: «Obwohl du weißt, dass wir damit keine Mehrheit haben?» «Ja.»
Es ist später Abend. Eine Stunde schweigen beide. Dann meldet sie sich: «Du hast etwas vergessen.» Er sofort: «Was?»
«Mir eine gute Nacht zu wünschen, mir zu sagen, dass du mich liebst.»
Er reagiert nicht. Elf Tage schreibt niemand eine Mail.
Der Detektiv Koenen wieder:
Ich bin dankbar, dass ich Annas Mails lesen kann. Ich lerne mehr über das Leid der Geliebten. Ich weiß nicht, ob es mir hilft, ein besserer Detektiv zu werden. Ich glaube nicht, dass ich meine Aufklärungsquote damit verbessern kann. Aber vielleicht kann ich die Liebe besser verteidigen, wenn ich meinen Kundinnen klarmachen kann, dass nicht Unglück gegen Glück steht. Wenn es der Geliebten um Liebe geht, ist auch sie die Unglückliche.
„Auch der Detektiv, kühler Beobachter der größten Leidenschaften aus Profession, erleidet schwerste Mitgefühlsattacken.“ (Volker Weidermann in der FAZ). Sogar mit Leo Schilf, der sich nur heimlich in den Mails über seine „Liebesüberschwemmungen“ ergießen darf und am Ende erpresst wird. Böse Politik! Guter Detektiv!
Kurbjuweit ist Journalist und leitet das Hauptstadtbüro des SPIEGEL.
2008 220 Seiten (Tabu)
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