Martin Walser: Mein Jenseits
Als einer, der nördlich der Donau zu Hause ist, fällt es mir nicht ganz leicht, mich in die bodenstämmige Metaphysik des Oberschwaben einzudenken.
Augustin Feinlein ist der Prototyp des (Walserschen) Losers, zumindest verortet er sich als solcher. Er kann nicht segeln, nicht tanzen, will diese oberflächlichen Bewegungsdinge auch gar nicht, aber er verliert darüber und deshalb auch sein Einziges: seine Eva (!) Maria (!). Und zwar verliert er sie, über den Umweg eines Bergsteigers, an seinen designierten beruflichen Nachfolger, den deutlich jüngeren, deutlich größeren und deutlich alerteren Dr. Bruder(!)hofer, den Tänzer und Segler.
Man kennt die Antagonisten aus dem „Fliehenden Pferd“. Helmut Halm, der „Versager“, und Klaus Buch, der zupackende Prätendent, beharken sich fast bis zum Untergang. Auch hier geht’s ums Segeln, ums Leben, um die Frau. Auch Dr. Bruderhofer, Walsers diesmalige andere Seite, „segelt jedes Jahr mit Eva Maria an dieser türkischen Küste auf und ab, ohne dass er weiß, an was er vorbeisegelt“, an den Stätten frühen Christentums nämlich, dem, was zählt im Leben – für Feinlein.
Augustin Feinlein ist ein Unmoderner, ein Übriggebliebener (lat. reliquus). Das macht ihn nicht unsympathisch. Er stemmt sich mit seinen geringen Kräften gegen die Zumutungen technischer Oberflächlichkeit, gegen Dr. Bruderhofer, den er hassen möchte, den er nicht hassen kann, denn es wäre projizierter Selbsthass. Feinlein sucht sich seine Refugien in der Vergangenheit. Er fliegt nach Rom, um sich dort – allein – in der Kirche Sant’ Agostino Caravaggios Madonna dei Pellegrini anzusehen mit den dörflich erdigen Fußsohlen des Pilgerpaares. Rom, das alte, „mein Jenseits“. Er weigert sich, in den modernen Trakt seiner Klinik umzuziehen. Und er klaut das Reliquiar, das Überbleibsel der ländlichen Religiosität. „Kurze Zeit war ich ein Sieger.“ „Wenn das Kreuz bei mir hätte bleiben können, hätte Dr. Bruderhofer keine Chance gehabt, mich zu vernichten.“
Wenn einer im Leben nicht kriegt, was er haben hätte wollen, wenn einer noch dazu so alt geworden ist, dass er es auch nicht mehr bekommen wird und sogar das, was er noch hat, seinen Beruf, abgeben muss, auch das an seinen persönlichen Widersacher, so sucht er sich Ersatz. Wo? Im Glauben. Oder: Er wird „allmählich komisch“, hält sich an seine „Mödelen“, seine „Skurrilitäten“.
So einfach ist es nicht. Denn Augustin Feinlein ist Wisenschaftler, er glaubt nicht. Er forscht und durchschaut. Und wenn man weiß, dann muss und kann man nicht glauben. Schade. Aber: „Dass der Glauben die Welt schöner macht, als das Wissen, stimmt doch.“ Das ist Beschwörung, Selbstbeschwörung. „Ich will keinen einzigen Menschen überzeugen. Nur mich selbst, wenn mir das gelänge, wäre ich der glücklichste Mensch in dieser Welt.“ In dieser Welt. Aber der Wunsch steht im Konjunktiv. Meersburger Inkantationen: Mein Jenseits als Aphorismus:
Glauben heißt, die Welt so schön machen, wie sie nicht ist.
Es ist schön, etwas zu glauben. Auch wenn’s nie für lange gelingt. Manchmal nur eine Sekunde, und weniger als eine Sekunde. Aber eine Sekunde Glauben ist mit tausend Stunden Zweifel und Verzweiflung nicht zu hoch bezahlt. Glauben lernt man nur, wenn einem nichts anderes übrig bleibt. Aber dann schon.
Die Weisheiten des Altersnarren. „Und so redet er dahin und redet immer mehr, bis, schon lange vor dem redseligen Schluss, jedem Leser überdeutlich ist, dass das Reden die Form der Glaubenssuche ist, die einzige, die dem Helden und wohl auch seinem Autor zur Verfügung steht.“ (Thomas Steinfeld in der SZ)
Der Oberschwabe als Reliquie. Eine Novelle mit Abschweifungen, aber doch zentriert, zurückhaltend und zugleich aufdringlich. Auch sprachlich.
Abschließend noch ein paar Gedanken aus Walsers Metaphysik:
Ich weiß, dass es den Himmel nicht gibt. Aber es gibt das Wort mit allem Drum und Dran. Genau so die Hölle. Natürlich gibt es sie nicht. Aber wir haben sie geerbt. Himmel und Hölle. Innen sind wir ausgestattet mit Himmel und Hölle und mit allem dazwischen. Himmel und Hölle existieren, ohne dass wir daran glauben. So das meiste. Es existiert, ohne dass wir daran glauben. Aber wir glauben ja daran. Ganz von selbst. Unwillkürlich. Wenn es den Himmel gäbe, könnten wir nicht daran glauben. Erst wenn uns auffällt, dass wir daran glauben, merken wir, dass wir nicht daran glauben. Aber dieses Nichtglauben unterscheidet sich kein bisschen vom Glauben. Das ist EINE Art von Gefühl oder Existenz. Immer unterschieden vom Wissen.
So ähnlich sagt das Papa Benedetto auch. Lasst sie doch dran glauben.
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