Nachrichten vom Höllenhund


Enright
27. April 2010, 19:13
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Anne Enright: Das Familientreffen

Der Roman ist beladen, mir scheint überladen mit den belastenden Gesten des Lebens. Die Erzählerin Veronica saugt sich voll mit den Verflechtungen der Familienbande, sie sucht ihren Platz als Kind, das sie immer bleibt, als Schwester, sie muss daraus ihren Platz als Mutter und Ehefrau bestimmen, was ihr alles andere als leicht fällt, sie weiß oft nicht, ob sie lieben oder hassen soll oder ob beides nicht eins ist. Dabei fantasiert und fabuliert sie nüchtern, illusionslos, aus der Distanz der betroffenen Beobachterin. Die Erzählerin kennt ihren Wunsch: hinaus in ein „größeres Leben“, sie ist aber Reporterin einer gewandelten Zeit, studiert, bilanzierend, mit Beruf, mit nur 2 Kindern; die wirklich erzählenswerten Ereignisse liegen in einer Vergangenheit, die noch hereinragt in die Gegenwart, der man nicht entkommt, der sie nicht entkommen will.

 »Als du klein warst, Mammy. Wo hast du gewohnt, als du klein warst?«
»Um die Ecke«, sagt sie und ist über diese Tatsache betrübt. »Ich glaube, wir haben um die Ecke gewohnt.«
Die Vergangenheit ist kein fröhlicher Ort. Und der Schmerz, der mit ihr einhergeht, gehört eher meiner Mutter an als mir, denke ich. Wer bin ich, dass ich die Vergangenheit für mich beanspruche? Meine arme Mut­ter hatte zwölf Kinder. Immer wieder musste sie die Zukunft zur Welt bringen. Ein ums andere Mal. Zwölf­mal Zukunft. Noch öfter. Vielleicht gefiel es ihr ja, all diese Kinder zu kriegen. Vielleicht verfügt sie über mehr Vergangenheit, die sie abstreifen muss, als die meisten Menschen.

 Es sind drei Generationen, die namhaft gemacht werden und ihren Beitrag zum Elend geliefert haben. Ada, die Granny, ragt als Zeugin einer Welt, die den Armen kraftvoll Ansprüche gestellt hat, in die Gegenwart des Erinnerns. Sie hat ein Vorleben und sucht sich Männer. Männer, das ist schon das Schlimme. Die Elterngeneration bleibt farblos, verschleißt sich im Einerlei des vor sich Hinlebens. Der Vater ist tot, die „notorisch überforderte und zwecks Selbsterhaltung desensibilisierte“ Mutter (Kristina Maidt-Zinke in der SZ) kann ihre Kinder nicht auseinanderhalten. Altirisch katholisch ist deren Zahl: 3 früh gestorbene, 9 lebende, darunter die Erzählerin Veronica, darunter ihr Lieblingsbruder Liam, ein Kind und ein Jahr älter als sie, jetzt auch tot.

 Mein Vater war nie fromm, und ich glaube nicht, dass er sich vor den Höllenqualen fürchtete – wenn er also den Sex hatte, der zwölf Kinder und sieben Fehlgeburten hervorbrachte, die im Körper meiner Mutter (welche jetzt am Ende der Reihe niederkniet) heranwuchsen, so war es nichts anderes als genau das: Er hatte Sex. Es hatte nichts damit zu schaffen, was die Priester ihm sagten oder nicht sagten, es war einfach etwas, das er tun musste oder tun wollte, etwas, das ihm seiner Meinung nach zukam.
Er liebte meine Mutter. Diese widerwärtige Tatsache ist nicht wegzuleugnen – die Tatsache, dass mein Vater meine Mutter liebte. Aber er liebte sie nicht innig genug, um sie in Ruhe zu lassen. Nein. Ich vermute, mein Vater hatte Sex so, wie seine Kinder sich betrinken – das heißt wider besseres Wissen: nicht um der Lust willen, die es ihm bereitete, als vielmehr, um allem Einhalt zu gebieten.

 Der Selbstmord dieses Lieblingsbruders Liam, der in seiner ungestümen Art mit seinem Leben nicht zurechtkam, ist Kern der Geschichte und Anlass des Familientreffens. Seltsam scheu angedeutet in diesem Roman, der sonst dem Geschlechtlichen nicht ausweicht, ist der letzte Grund für den Tod, der sexuelle Missbrauch Liams durch einen von Adas Männern, der zur Verstörung führt, die nicht mehr zu kompensieren ist.

Es muss viel geklärt werden, bis das „Familientreffen“ stattfinden kann. Müsste geklärt werden, denn die Erzählerin ist sich ihrer Erinnerungen nicht sicher und sagt das auch. „Ich möchte niederschreiben, was im Haus meiner Großmutter geschah in dem Sommer, als ich acht oder neun war. Aber ob es wirklich geschehen ist? Mit Gewissheit kann ich es nicht sagen.“ Der Handlungsverlauf wird dadurch abgebremst, windet sich, findet erst spät zur Zusammenführung des zerstreuten Personals im Haus der Mutter. Die Kapitel haben zu viel Kraft, kosten zu viel Kraft, sind wichtig, schieben sich aber vor das Geschehen, beulen den Roman aus.

2007           340 Seiten

Die Erzählungen – „Alles, was du wünschst“  – machen es Anne Enright und dem Leser leichter, da Skizzen oft reichen, um die Verlorenheit der Personen gegenüber Familie und Leben zu belichten.  

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