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Helmut Krausser:
Einsamkeit und Sex und Mitleid
Bei Youtube kann man sich von Elke Heidenreich den Inhalt erzählen lassen und wer alles mitspielen darf in diesem Roman, der keiner für „Zimperfritzen“ sei. Weshalb nur schaut Frau Heidenreich immer an mir vorbei?
Reigen, Karussell, Panorama, Soap, Sittenbild, Lindenstraße, Großstadtsinfonie, Kaleidoskop, Episodenroman, das sind die Beutel, in die Kraussers „kleine dreckige Geschichten“ (Tilman Krause, Welt) gesteckt werden. Rabenschwarz, Trash, Pulp-Fiction.
Das ganze Personal ist einsam, Sex findet statt oder auch nicht, man weiß mit sich und den anderen nichts anzufangen, wie es eben in der Großstadt und zunehmend auch sonst überall so ist. Da es keine bleibende Verbindung gibt, können die „Elementarteilchen“ schnell auch wieder aufeinander treffen. Man könnte eine Art mind-map anlegen, die Spuren der Einsamen eintragen, Paarungspunkte markieren, im Zentrum das Nachtmar, die „Spelunke am Viktoriapark“. Das Mitleid steckt vielleicht in Krausser, der seine Personen nicht liebt, sie auch nicht denunziert, sie aber wohl schon deshalb cool findet, weil er sie sich ausgedacht hat. Wer solche Figuren kennt, ist auch einer von ihnen, wie sie, weiß, wie sie sprechen. Ist aber gleichzeitig so sprachmächtig, dass er sie vorführen, arrangieren kann. Krausser ist der, der Wörter hat für ihre Gefühle. Das Lustige liegt weniger in den Situationen und Personen, so skurril sie auch sein mögen, sondern in der Diskrepanz zwischen Geschehen und Darstellung.
Ümal hörte in seinem Kopf eine Stimme, die ihm dringend riet, sich zu verpissen. Denn kein Lebewesen, nicht einmal eine Ratte, müsse für dieses Mal geopfert werden. Ümal packte das blanke Entsetzen, er taumelte rückwärts durch die Haustür, doch dann, während er die Straße hinunterrannte, spürte er weder Wut noch Enttäuschung, im Gegenteil. Er konnte es sich nicht erklären.
Ihm war, als berühre gerade der Finger einer bedingungslosen, umfassenden Liebe alle Dinge, Tiere und Menschen dieser Welt.
Das ist der letzte Satz. Da wird der Trash zur Farce. Und der “Roman” erträglich. Man sollte den Roman nicht – zu – ernst nehmen, sondern ihn als Gebinde prekariös verwahrloster Satiren lesen.
»Wie geht das nun weiter mit uns?« fragte er Swentja in einem seltsam gezierten, beinah resignativen Tonfall, als wäre er so was wie Swentjas Bewährungshelfer, dem allmählich die Geduld verlorenging. Swentja wußte nicht, was sie antworten sollte, und stellte schließlich eine Gegenfrage. »Liebst du mich oder willst du mich nur ficken?«
»Wie kommste auf die Idee, daß ich dich -« Lieben würde, wollte Mahmud eigentlich sagen, aber es klang bereits in Gedanken zu grob, und er entschied sich spontan um.
»Nur ficken will? Glaubst du, wenn ich dich nur ficken will, mach ich son Gerenne und reiß mir beinahn Bein aus, um dich zu finden?« Mahmud registrierte überrascht, daß diese Schmeichelei gar nicht so verlogen rüberkam, ja einigermaßen glaubhaft klang. Sogar in seinen eigenen Ohren! Er begriff, daß irgend etwas vorging mit ihm, das ihn unter Kontrolle hatte, nicht andersherum.
»Wir könnten«, hörte er Swentja sagen, »ja erst mal das machen, was wir sowieso vorhatten. Ich brauchn bißchen Geld, weißte, ich lieg Marlenes Ma auf der Tasche und freß mich bei ihr durch. Zu meinen Eltern will ich grad nicht zurück.«
»Ach? Du willst Kohle von mir!« Mahmud tat, als sei er von dem Vorschlag leicht angewidert. War es nicht eben um Liebe gegangen? Oder wollte Swentja einen Beweis seiner Liebe in finanzieller Form? Und war das okay? Mahmud blickte da nicht mehr recht durch. Plötzlich erhob sich Swentja vom Sofa, setzte sich auf seinen Schoß und küßte ihn. Und alles war gut und sagenhaft einfach geworden, von Augenblick zu Augenblick.
Bis er sie eine Hure nannte.
2009 225 Seiten
P.S. Der Titel wurde von Joseph Haydn vertont.
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