Nachrichten vom Höllenhund


Lewycka
12. Juni 2010, 16:15
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Marina Lewycka: Das Leben kleben

Zu lang. Ja, das schon. Aber warmherzig. Und originell im Kleinen wie im Großen. Sympathische Menschen, alle Figuren, auch die Schrulligen und Verschrobenen und gerade die. Und schrullig sind sie alle, auch die Ich-Erzählerin Georgie, oder Georgina, oder Georgiana, je nach Partner. Und warmherzig.

Oft und oft zieht Mrs. Shapiro ihre König-der-Löwen-Hausschuhen a, oft und oft liegt und streicht Wonder-Boy, eine der sieben Katzen der Mrs. Shapiro, im Haus herum. Es gibt viele Auf- und Abtritte, doch letztlich fügt sich alles aufs Schönste zusammen und man ist Teil der Familie. Obwohl eigentlich keine der Personen eine Familie hat. Georgies Mann Rip ist gerade ausgezogen, Mrs. Shapiros Beziehungsgeflecht ist sehr rätselhaft, sie lebt allein im halb verfallenen Canaan House, das ihren morbiden Charme doppelt, und auch die anderen Besucher und Eindringlinge kommen einzeln daher. Aber sie finden sich.

Georgie findet Mrs. Shapiro bei ihrem Sperrmüll und wieder im Supermarkt, wo sie übelste Schnäppchen ergattert. Das erinnert Georgie an ihre Mutter und sie nimmt sich Mrs. Shapiros an und kämpft mit ihr gegen die Unbillen des Weiterlebens.

Als ich der Hand mit den Augen folgte, entdeckte ich eine alte Frau, die zwischen den Schultern zweier dicker Damen durchtauchte. Ihr Haar steckte unter einer feschen karierten Schottenmütze mit einer strassbesetzten herzförmigen Brosche, doch ein paar Strähnen schwarzer Locken hatten sich gelöst. Ihre Hand schwirrte hin und her wie ein wild gewordener Greifarm. Es war Mrs. Shapiro.
»Hallo!«, rief ich.
Sie hob den Kopf und starrte mich einen Moment lang an. Dann erkannte sie mich.
» Georgine!«, rief sie. Sie sprach das G hart aus, und dehnte den vorletzten Vokal. Georgiene! »Guten Tag, Darlink!«
»Schön, Sie zu sehen, Mrs. Shapiro.«
Ich beugte mich zu ihr und gab ihr ein Küsschen auf jede Wange. Im engen Supermarktgang roch sie reif und furzig wie alter Käse gemischt mit einem Hauch von Chanel No. 5. Ich sah die Gesichter der anderen Kunden, als sie zurückwichen, um sie durchzulassen. Sie hielten sie für eine Obdachlose, eine Spinnerin. Sie konnten nicht wissen, dass sie Bücher sammelte und große russische Komponisten hörte.
»Jede Menge schöne Schnäppchen heute, Darlink!« Mrs. Shapiro war ganz atemlos vor Aufregung. »In einer Sekunde der volle Preis, in der nächsten die Hälfte – gleiche Ware, kein Unterschied. Schmeckt immer besser, wenn man weniger be­zahlt, nich wahr?«
»Sie sollten mal meine Mutter kennenlernen. Sie ist ständig auf Schnäppchenjagd: Sie sagt, es hat etwas mit dem Krieg zu tun. «
Ich nahm an, dass Mrs. Shapiro etwas älter als meine Mut­ter war, vielleicht Ende Siebzig. Faltiger, aber auch lebhafter. Statt in den alterstypischen breiten Halbstiefeln mit Klettver­schluss wackelte sie wie ein Starlet auf zehenfreien Stöckel­schuhen herum, aus denen die schmuddeligen Zehen ihrer grauweißen Baumwollsocken heraussahen.
»Nicht nur mit dem Krieg, Darlink. Ich hab schon früh im Leben lernen müssen, über die Runden zu kommen. Ein har­tes Leben ist ein guter Lehrmeister, nich wahr?«
Ihre Wangen waren rot, der Blick konzentriert und wach, die Stirn leicht gerunzelt vom Mitrechnen, als die neuen Eti­ketten auf den alten landeten.
»Kommen Sie schon, Georgine, Sie müssen zupacken!«

Die Handlung verästelt sich. Mrs. Shapiro, die niemanden mehr hat und aus ihren ehemals mondänen Kleidern geschrumpelt ist (wie aus ihrem Leben), ist vielleicht gar nicht Mrs. Shapiro, Georgies Sohn Ben gerät in den Strudel des virtuellen Weltuntergangs, Fürsorgerinnen und Makler und Georgies Klebstoff-Kollege Nathan kriegen ihr Eigenleben. Gut, dass alles miteinander verleimt wird. Hilfreich oder gerade nicht ist, dass Georgie zur Verarbeitung an ihrem Roman „Das verspritzte Herz“ laboriert, der sie sie auch bei ihrer Suche nach Liebe Geborgenheit  Heimat begleitet . „Vor lauter Hormonrauschen konnte ich mich gar nicht denken hören.“ Mrs. Shapiro rät auch hier zum Zupacken.

Zentraler Treffpunkt des Gewusels ist das Canaan-House, in dem Marina Lewiycka auch noch den Palästina-Konflikt versammelt und löst, zumindest im warmherzigen Netz Nest von dessen Patchwork-Besatzung.

Das könnte kitschig, klebrig werden, tut es aber nicht, weil Lewycka an ihren Personen und an ihren Themen interessiert ist und niemanden denunziert. Und weil sie auch Hintergründe bietet: das Verhalten der Dänen zu „ihren“ Juden während der deutschen Besetzung, Schicksale jüdischer und palästinensischer Familien im Israel von 1948 bis heute, und daneben Infos zu Klebetechniken. Das ist natürlich arg konstruiert, aber es geht zusammen.

Ein schöner Roman, der einem immer stärker ans warme Herz wächst.

Der deutsche Titel „Das Leben kleben“ ist natürlich dumm. Das englische „We Are All Made Of Glue“ müsste mit „Sind wir nicht alle ein bisschen Uhu?“ übersetzt werden.

2009          450 Seiten

Video-Beitrag des NDR-Kulturjournals

Hompepage von Marina Lewycka

Lange Leseprobe hier

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