Nachrichten vom Höllenhund


Wray
3. August 2010, 17:24
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John Wray: Retter der Welt

Ein Tag im Leben von Lowboy. Aber was sind schon Tage, was ist das Leben. Will Heller nennt sich Lowboy, tiefer gelegt, auch durch die Medikamente. Er ist sechzehn, schizophren und will die Welt retten. Oder muss, denn die Welt wird sich überhitzen, wenn er sie nicht abkühlt, und er hat dafür nur einen Tag Zeit. Diesen Tag begleitet ihn Wray auf seinen Driften durch die Unter-Welt der New Yorker U-Bahn und er beschreibt Lowboys Wahrnehmungsstörungen faszinierend.

Sobald er die Augen aufschlug, bereute er es. Die Dinge um ihn herum flackerten kurz, bevor sie scharf und deut­lich wurden, als hätte er sie in einem schwachen Moment ertappt, und dann begannen ihre Umrisse zu zucken und ineinander zu verschwimmen. O nein, murmelte er. Die Argonlampen stotterten wie Tauben. Eine Art Intelligenz lenkte sie. Er versuchte sich einzureden, dass es nichts zu bedeuten hatte, was er sah, dass es ihn nichts anging, aber es war zu spät. Er klammerte sich an die Kante der Bank, at­mete schnell und keuchend und zwang sich, die Dinge direkt anzusehen. Die Bank war glatt, die Wand hell, die Skelette waren uninteressant und tot wie eh und je. Alles war, wie es sein sollte, unbeseelt und unbewegt. Sogar die Leute, die auf den Zug warteten, wirkten vollkommen stimmig und ruhig, aber das war schon wieder falsch. Es war, als hätte er einen Blick hinter den Vorhang eines Theaters erhascht, hinter die Aufbauten und die Leinwandkulissen, und obwohl das Stück gut war, konnte er all die Seile und Flaschenzüge nicht ver­gessen. Damit hättest du rechnen müssen, sagte er sich. Du hast damit gerechnet. Aber er hatte es nicht so bald erwartet, er hatte noch nicht jetzt damit gerechnet, und er fühlte sich ausgehöhlt, hilflos und krank.
Ein Fetzen von der Zellophanhülle einer Zigaretten­schachtel huschte über den Bahnsteig, tänzelte kokett an der Bank vorbei: ein scheues Omen. Ein Vorzeichen. Er drückte das Gesicht gegen seine Knie und atmete keuchend.
Um sich zu beruhigen, lenkte er seine Gedanken auf das Opfer, das er bringen wollte. Es gab Momente, in denen er daran zweifelte, dass er am Ende fähig sein würde, dem Ruf zu folgen und seinen Auftrag zu erfüllen; in denen er schon bei dem Gedanken an einen nackten Körper würgen musste. Und es gab andere Momente, in denen er sich nichts anderes wünschte. Wen werde ich wohl finden?, dachte er, die Stirn auf die Knie gestützt. Wen werde ich hier unten finden? Er dachte an das Mädchen, das er im Zug gesehen hatte. Sie hörte gern Musik. Er rief sich in Erinnerung, wie sie ihn an­gesehen und gelächelt hatte. Ihre langen Fransen, ihre Selbst­vergessenheit, ihre schönen Finger mit den abgebissenen Nä­geln. Er starrte durch die Beine auf das dunkle, schmutzige Ende des Bahnsteigs, wo der Stumpfsinnige gestanden hatte, und überlegte, ob es dort passieren könnte. Wenn er eine Verrückte fände, dachte er und hätte beinahe laut aufgelacht. Ja, wenn er eine fände, die verrückt genug war.

Wray hat sich in die Schizophrenie eingelesen und gibt ihr mit Lowboy einen verstörenden Charakter. Lowboy ist die Welt, „die Welt ist in mir“, er kann sie nur vor dem Verglühen bewahren, wenn er sich selbst aufhält, sein Ziel findet, vor dem er aber gerade davonläuft. Er braucht sein „erstes Mal“, doch als er eine Freundin gefunden hat, stößt er sie auf die U-Bahn-Geleise. Er müsste sich mit sich selbst wiedervereinigen.

Da Lowboy kurz vor der Entlassung seine Beruhiger abgesetzt hat und aus der Klinik floh, wird er gesucht. Man traut ihm unkontrollierte Gewalttaten zu. Detective Lateef fährt mit Lowboys Mutter Yda/Violet über der Erde die Fluchten des Jungen nach, kommt ihm nahe, kann ihn aber natürlich nicht fassen. Violet bremst ihn bei seiner Arbeit, sie kommen sich näher, denn Lateef ist ein Mensch, kein Bürokrat, doch Violet, man ahnt es, ist selbst schizophren.

Sie verstummte und drückte die Handballen gegen ihre Augen. Lateef fuhr in gemächlichem Tempo um den Block herum und bog wieder in die Amsterdam ein. Dass sie weinte, beunruhigte ihn nicht, im Gegenteil: Es bewies ihm, dass etwas, das zwischen ihnen gestanden hatte, weg war. Eine Barriere war verschwunden, nicht durch sein Zutun, sondern nur weil jemand ihren Sohn lebend gesehen hatte. Sie spart ihre Kräfte auf, dachte Latee£ Für das, was auf sie zukommt. Sie weiß, dass sie ihre Energien nicht an mich ver­schwenden darf.

Was mich gestört hat, sind die Übercodierungen. Gut, Lowboy sieht in allem, was er wahrnimmt, ein Zeichen. Aber muss Wray die U-Bahn-Tunnels als „Megametapher“ (Felicitas von Lovenberg, FAZ) einsetzen? Das hatten wir doch schon: „Die  U-Bahn ist nicht nur Emblem der Moderne, sie […] war Projektionsfläche urbaner Mythen.“ (?, Zeit) Wobei sich anscheinend vor allem die Subways der neuen Welt, bevorzugt die New Yorks, zur Mythisierung eignen. Oder gibt es auch die Münchner Metro als Mythos? Was bleibt den deutschen Schizos?

Das zweite: Die Erde heizt sich über Gebühr auf. Lowboy projiziert seine bedrängte Identität als Welt. Weshalb treibt ihn das Profane zur Mission? Woher hat er von der Klimaerwärmung gehört?

Und dann: Lowboy „kann“ die Welt retten, indem er mit einer Frau schläft. Dieses Gespinst lässt sich wohl psychologisch erklären, aber weshalb soll die sexuelle Aufheizung, vor der Lowboy ja davonläuft, zugleich ihn selbst und damit seine imaginierte Welt so zurechtkühlen, dass man in ihr leben kann?

Mir sind all die Zeichen zu viel, ich will sie nicht alle entschlüsseln. Ich soll mich auch nicht mit Lowboy identifizieren, das verhindert Wray mit seiner Perspektivenmischung. Mir fehlt aber auch das Interesse für die Person, für den Roman, Lowboys Hitzeflirren lässt mich recht kalt.

2009       350 Seiten

John Wray Video zu „Retter der Welt“ – 4:45
ZDF heute-Reportage – 4:20

  John Wray: Die rechte Hand des Schlafes

 

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