Mira Magén: Die Zeit wird es zeigen
Anna, 13, leidet seit ihrer Geburt an Koordinationsstörungen, weil ihr Gehirn kurzzeitig von der Sauerstoffzufuhr abgeschnitten wurde. Um sich einen Wunsch zu erfüllen und sich zu beweisen, fährt sie mit dem Fahrrad, was sie nicht kann und nicht darf, und stellt ihren fünfjährigen Bruder Tom auf den Gepäckträger. Was geschehen soll, geschieht: Tom stürzt, fällt auf den Schädel und ins Koma. Anna wagt nicht zu sagen, dass sie ihre Pflicht verletzt hat, sie fühlt sich mit ihrer Schuld allein.
Diese Erzählung ist aber vor allem der Aufhänger für die Gedanken über die Fragen: Was ist das Schicksal? Weshalb ist es nicht gleichmäßig oder gar gerecht verteilt? Spielt Er, Gott, dabei eine Rolle? Der Roman ist eine Parabel, in der das Salz, das man auf den Tisch stellt oder dem anderen reicht, immer auch Metapher für das Einfache und doch so Komplizierte des Lebens ist. Auch die Tiere werden bemüht, die Vögel in der Luft und die Fische im Meer und der Kater Karniel. „Hinter der einfachen Handlung versucht Magén eine ernste Geschichte zu erzählen: Sie suggeriert, dass auch der zweifelnde Glaube helfen und auch die verratene Liebe heilen kann. Zwar verzichtet Magén sowohl auf moralisierende als auch auf psychologisierende Schlüsse, aber sie impliziert schon vom Titel an ein fast existenzielles Ausgeliefertsein des Menschen in der Welt. So ist der Roman trotz der sommerlichen Ferienstimmung von einer Abgeklärtheit durchdrungen, die sich in vielen zitierfähigen Sätzen – Alltagsweisheiten eben! – niederschlägt: «Wenn alles einen Grund hätte, wäre das Leben ein Einkaufszettel für den Supermarkt.»“ (Stefana Sabin, NZZ) Schön, aber im Roman doch etwas aufdringlich.
Die Farbe verließ das Meer und den Himmel. Die Mutter fragte, ob sie Lust hätten, Schakschuka zu essen, und der Vater pfiff: »Segle, segle, mein Schiff, das Meer ist so groß …« Sie aßen Schakschuka und die Mutter sagte: »Schaut her, das Leben dreht sich von einer Sekunde zur anderen, und in der nächsten dreht es sich wieder zurück.«
Der Vater sagte: »Das ist das Schicksal, Cheli, das Schicksal.«
»Das ist Gott, Mike.«, sagte die Mutter und steckte sich eine Zigarette an.
»Weißt du was, es ist mir egal, nenne es, wie du willst.« »Vielleicht ist ja alles, wovon wir keine Ahnung haben, nur Physik und Chemie.«
Danach schwiegen sie fast die ganze Zeit. Vielleicht hatten sie Angst, durch Reden das Leben in seinen früheren Zustand zurückzuverwandeln. Die Mutter meinte, man könne nicht wissen, was hinter allem stehe. Sie räumten den Tisch ab, gingen in die Küche und Anna nahm eine Gabel und ritze GGT in den Tisch, Gott, Glück und Treue. Dann stellte sie den Salzstreuer darauf und verließ den Tisch. Morgen oder später am Abend würde sie diese Worte prüfen und sehen, ob sie überhaupt etwas wert waren.
Cheli und Mike nehmen sich vom Leben, was es gibt, und sie sind meist zufrieden mit dem, was sie kriegen. Neben Anna und Tom haben sie noch die jüngere Tochter Naomi, die wunderschöne, bewundernswerte, die keine Probleme zu kennen scheint. Das ist nicht einfach für Anna, doch sie gibt nicht auf, fällt und schleppt sich auf ihren dünnen Beinen, die ihr nicht gehorchen, weiter. Edisso ist mit seiner Familie, die das nicht verkraftet hat, als Jude aus Äthiopien zugewandert. Schwarz, kraushaarig, chancenlos, aber bestrebt. Er hilft Cheli und Mike in ihrem Kiosk, den sie die Sommermonate über am Strand von Tel Aviv betreiben. Auch in ihm zeigt sich eine Facette des Schicksals. Anna freundet sich zaghaft mit ihm an, weil sie in ihm den Außenseiter erkennt, der auch keine großen Wünsche an das Leben stellen kann.
Blass vor Erregung und lachend wie ein Junge, der bei seiner Bar Mitzwa in der Synagoge auf das Podest steigt, um aus der Thora zu lesen, legte Anna ihre zitternden Hände auf den Lenker und spreizte ihre dünnen Beine über die Pedale. Aber es gelang ihr nicht, sich auf den Sattel zu setzen.
»Ich stell ihn dir tiefer«, sagte Edisso. Sie beugte sich über den Lenker. Er stellte den Sattel etwas niedriger und den Lenker etwas höher und sie wartete geduldig, bis er alles gerichtet hatte, beugte sich, das Fahrrad zwischen den Beinen, vor und zurück, ohne es auch nur eine Sekunde lang loszulassen. […] Edisso griff nach der anderen Seite des Lenkers und nun schoben sie das Rad gemeinsam zu den Umkleidekabinen, wie Eltern, die ein Kind zum Arzt bringen.
Dieser Edisso ist ein Geschenk des Himmels, dachte Mike, sogar mehr als das. Er gehört zu den Menschen, bei denen du, wenn du ihnen in die Augen schaust und etwas Trauriges siehst, sofort bereust, dass du überhaupt geschaut hast.
Da der Roman in Israel spielt, ist Chelis Schwester Sara mit einem militanten Erez-Israel-Aktivisten verheiratet und erwartet so gerade ihr achtes Kind. In dieser orthodoxen Familie muss es klar sein, dass Er es so will. Magén platziert Sara als Gegenmodell zur leichtlebigen Cheli, lässt sie ihre Haare und damit ihre Sinnlichkeit unter dem Kopftuch verbergen. Sara muss ihr Leben maskieren, Cheli, die Schwester, darf sich die stete Kontrolle versagen.
Sie saßen in der Dunkelheit auf der Treppe und Cheli weinte unkontrolliert, sie ließ die Tränen laufen, wie sie kamen. In der ersten Runde ihres Lebens hatte es gelbe Gummienten in der Badewanne gegeben, die von kleinen Händen hin und her geschoben wurden, und die Welt war unter Kontrolle. Später verblassten die Enten, das Gummi wurde spröde und die Hände waren schon mittelgroß. Die zweite Runde hatte begonnen und alles geriet außer Kontrolle.
Es spielt keine Rolle, ob Cheli wegen der Erinnerung an die gelben Entchen weinte, oder wegen der Ohnmacht dieser Tage. Wenn jemand weint, gleicht er einem, der betet, und man muss ihm genügend Zeit geben und ihm Respekt für seine Tränen erweisen.
Mike lauschte dem Meer, dessen Stimme die Summe des Vergangenen und des Zukünftigen enthielt, Milliarden Fische schwammen darin herum und jeder Fisch war auf sich allein gestellt. Die Fische wurden geboren und niemand freute sich darüber. Sie starben und niemand trauerte ihnen nach. Man hielt keine Totengebete für sie, keine Trauertage und keine Gedenktage. Ohne zu denken, war ihnen klar, dass es ihr Schicksal war, vergessen zu werden und selbst zu vergessen. Nur die Menschen machten ihren Tod zum Ende der Welt, als hörte mit ihnen auch die Welt auf zu existieren. Als würde es für sie eine Rolle spielen, wer gegangen war und wer dazu kam … Was ist mit dir, Mensch?
2008 400 Seiten
Porträt Mira Magéns von Jeannette Villachica in der NZZ
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