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Joseph Conrad: Der Geheimagent
Irgendwann einmal hatte ich ihn gefragt, wer sein Lieblingsheld in der Literatur sei. Er hatte kurz nachgedacht und geantwortet: »Mister Verloc aus Der Geheimagent von Joseph Conrad.« Ich hatte ausgerufen: »Verloc? Er ist ein Teufel’« Worauf er: »Leider ersparen Sie mir nicht die Peinlichkeit, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass es sich bei dieser Geschichte nicht um das Leben, sondern um Literatur handelt.«
Der „er“, der das sagt, ist der – fiktive – Lektor Dr. Beer in Michael Köhlmeiers Novelle „Idylle mit ertrinkendem Hund“. – Da ich besonders darauf hingewiesen wurde, habe ich Conrads Geschichte gelesen. Wer ist dieser Verloc? „Gewissenlos“, „janusköpfig“, „seine scheinbar einem literarischen Spleen verhaftete Selbstverkennung zeugt von einer verschwimmenden Grenze zwischen Leben und Vorstellungskraft“ (Julia Zarbach, literaturhaus.at). Auch Lear’s Narr wird zitiert. Gut, Vergleiche lassen sich immer ziehen, aber hebt sich Dr. Beer und mit ihm Köhlmeier – der Belesene – nicht zu hoch, wenn er sich in Shakespeareschen Gefilden tummelt oder den flanierenden Anarchisten Verloc hervorzieht.
Eine internationale Sicherheitskonferenz soll abgehalten werden. Im Ausland macht man sich Sorgen, denn die englische Gesetzgebung erscheint viel zu liberal. Was also tun? Ganz einfach: Man beauftragt einen Agenten damit, ein Bombenattentat in London durchzuführen. Sobald die Stadt unter Schock steht, werden auch die Briten ihre Gesetze verschärfen, so das Kalkül. (Rolf Dobelli, amazon)
Mr. Verloc ist eine Figur auf dem Schachbrett, wird mehr benutzt als er überlegt agiert, initiiert den Anschlag, stellt sich aber auch dazu zu dumm an. Wenn „ein Teufel“, dann ein armer. Als Romanfiguren überzeugen andere stärker, etwa Verlocs Frau Winnie. Sie erkennt, „dass die Dinge einer näheren Betrachtung nicht standhalten“, will aber nicht, wie Verloc, die Dinge ändern, sondern stellt die Betrachtung ein, bis sie zuletzt die ist, die wirklich handelt. Denn die Anarchisten und die Politiker und die P Polizisten sind in Conrads Darstellung Illusionisten, Feiglinge, Arbeitsscheue, in ihrer Anmaßung austauschbar.
Joseph Conrad steht als Zyniker neben seinen Figuren, lästert über die Gesellschaft, zeigt aber auch keine Moral. Das ist auch nach 100 Jahren modern. Die Handlung wird eher berichtet als erlebt, in den dauernden Gesprächen – oder deren Verweigerung, wie bei Verloc und seiner Frau -, erfährt man viel über die Psyche der Personen, vieles, was diesen selbst aber nicht bewusst ist, was sie sich nicht eingestehen können. Natürlich gab es vor 100 Jahren kaum technische Hilfsmittel, der Roman kommt deshalb langsam voran.
1907 395 Seiten
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