Nachrichten vom Höllenhund


Kleeberg
19. September 2010, 11:56
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter:

Michael Kleeberg: Barfuß

Eigentlich die klassische Novelle. Dicht, sprachfertig, das unerhörte Ereignis, die entblößten Füße als Doppelsymbol von Freiheit und Schutzlosigkeit, alles da. Kleeberg modernisiert das Personal, sein Protagonist Arthur K., meist K. genannt, ist Mitinhaber einer florierenden Pariser Werbeagentur, das Ereignis, das sein Leben auf den Kopf stellt, bedient sich zum Eintritt moderner Technologie, hier dem „Minitel“, einem französischen Vorläufer des Internets, und das Thema ist Masochismus. Lediglich die Sprache bleibt die der Novelle des 19. Jahrhunderts, einerseits angenehm und schön zu lesen, andererseits bemüht verstaubt, in verkrampftem Kontrast zum Sujet.

Schauder überlief ihn.             Am nächsten Tag war für 15 Uhr ein Treffen bei einem Kunden anberaumt, das voraussichtlich den ganzen Nachmittag in Anspruch nehmen würde. Als K. dort ankam, teilte die Sekretärin ihm unter einem Schwall von Entschuldigungen mit, sein Gesprächspartner habe kurzfristig ein wichtiges Meeting wahrnehmen müssen und nicht einmal mehr Zeit gehabt, die Agentur zu benachrichtigen, bevor K. unterwegs war. Natürlich würde der ausgefallene Nachmittag entlohnt. K. sah aus dem Fenster im 19. Stock über das dunstige Paris im Sonnenglast hin und hatte Mühe, seine Euphorie zu verbergen. Freiheit! Das sengende Glück betäubte sein Hirn, und er hatte nur einen Gedanken: Hinaus in die Straßen, schweifen, anonym, unbekannt, einen gestohlenen freien halben Tag lang, da niemand ihn suchte, niemand ihn kannte, ledig aller Bindungen in der Stadt untertauchen, hinaus durch den Spalt, der plötzlich klaffte in der Wand zwischen ihm in seinem engen Anzug und der staubig schwitzenden lebendigen Stadt. Als er den Wagen in einer Tiefgarage beim Louvre geparkt, Schuhe und Strümpfe abgestreift hatte und barfuß auf dem öligen Betonboden stand, war er ein anderer geworden. Einen Moment verwundert, hielt er inne: Dies war also, was er tat, wenn er nicht nachdachte, sondern die Zügel schießen ließ – er folgte einer Kraft, die ihn direkt anzog. Er fühlte sich auf einem dünnen Seil der Unschuld balancieren, Freiheit ist immer nur ein Weg, nie ein Ziel, keinen Gedanken jetzt daran, wohin sie führen sollte, es galt, sie dauern zu lassen. Wenn man träumt, daß man träumt, steht man kurz vorm Erwachen, aber manchmal war es möglich, einen angenehmen Traum per träumerischem Willensakt zu verlängern. Er stieg hinauf ins Licht und merkte an der Art, wie seine Füße den Boden berührten, voll abrollend, daß er sich nicht peinlich war.

Peinlich wird die Novelle mit ihrem elaborierten Geschwafel über die Möglichkeiten, durch extreme Unterwerfung zur einzig möglichen Form von „Freiheit“ zu gelangen, durch ihre Steigerung bis hin zu pseudoreliösen Exzessen, zur nervenden Fetischisierung der baren Füße, durch den konstruierten Kontrast zwischen als öde und sinnleer empfundenen Berufs- und Familienwelt K.s und seiner neurotischen Enthemmung bei seinem Peiniger.

„Barfuß“ kann man als interessante und bedacht komponierte Neuinszenierung der Gattung lesen. Harald Jähner bezeichnete in der FAZ die Novelle ziemlich verärgert als „ausgesprochen halbseidene […] ermüdende Farce des verspießten Glücks“. Das habe ich beim Lesen zunächst nicht ganz so arg empfunden, vor allem weil die patinierten Sätze doch erfreuen. Aber rückblickend kann ich Jähners Verdikt doch verstehen.

1995      150 Seiten

Lange Leseprobe bei book2look

2-4

Gut gefallen haben mir einige der Geschichten aus Kleebergs „Der Kommunist vom Montmartre“ (1967) 


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