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William Boyd: Einfache Gewitter
Adam Kindred, amerikanischer Wetterphysiker, gerät bei einem London-Aufenthalt ziemlich zufällig in eine Wohnung, in der gerade ein Mord verübt wurde. Da er sich selbst für den Täter hält bzw. meint, er könne seine Unschuld nicht glaubhaft erklären, sucht er sich ein pittoreskes Versteck am Ufer der mit den Gezeiten ihre Fließrichtung wechselnden Themse- und haust dort ohne Kontakte und zunehmend prekärer Versorgung.
Um der Aufspürung zu entgehen, sucht er sich neue Identitäten, baut sich nach und nach ein neues Beziehungsgeflecht auf – wobei ihm die „church of John Christ” nützlich ist – und wird allmählich seinerseits als Ermittler aktiv. Dabei stößt er auf die üblichen Machenschaften der Pharma-Industrie, deren kaltschnäuzige Repräsentanten mit der Einführung von “Zembla-4”, des ultimativen Asthma-Mittels, den Weltmarkt erobern wollen und dabei auch letale Testreihen und Mord und Totschlag “in Kauf” nehmen.
Boyd vermischt hier wieder brisante gesellschaftspolitische Themen mit privaten Schicksalen und dem zentralen Motiv der “Zerbrechlichkeit unserer Identität” (Klappentext).
Sie hatten schon mehrmals darüber geredet, ohne dass Adam viel gesagt hatte – nur zugehört. Es bewies ihm einmal mehr, was er immer vermutet hatte: Dass die unendlich vielen Verbindungslinien zwischen zwei Einzelwesen – mochten sie eng oder weit gespannt sein, sich berühren oder überdecken – fast immer unentdeckt und unerkannt blieben, ein riesiges, unsichtbares Netzwerk der möglichen, der wahrscheinlichen, der beinahe erfolgten Begegnungen. Irgendwann in seinem Leben erhaschte jeder mal einen kurzen Blick auf dieses Netzwerk – beglückt und staunend oder mit dem Gruselschauder, der einen bei einem übernatürlichen Phänomen überrieselt. Die komplexe Verflochtenheit aller menschlichen Existenz konnte beruhigend und verstörend wirken – zu gleichen Maßen. Anfangs war Adam verblüfft gewesen, als er feststellte, dass der tote Philip Wang nicht nur in seinem, sondern auch in Ritas Leben eine Rolle spielte, aber nach und nach war es ihm fast selbstverständlich vorgekommen. Woher sollte er auch wissen, wie viele unsichtbare Korrespondenzen, Anziehungen, Bindungen zwischen ihnen bestanden? Wie sollten sie jemals ihre Koordinaten in dem großen Netzwerk bestimmen, das alle Menschen miteinander verband?
»Was ist mit dem Mann?«, fragte Adam.
Doch die interessante Frage, wie man sich gerade in der Großstadt der umfassenden Vernetzung durch die Kommunikationstechnik entziehen kann, ob man den Datenspuren entkommen und ein anderer werden kann, wird mehr und mehr zurückgestellt und macht der Durchleuchtung des globalisierten Pharmakomplexes Platz. Was Boyd hier entlarvt, geht aber nicht über Bekanntes und Erwartetes hinaus. Der Vorgänger-Roman “Ruhelos” gefiel mir etwas besser, da das Geheimnis der Spionage-Existenz der Mutter der Erzählerin schlüssiger in die historische Situation eingebettet ist.
Boyd erzählt in fünf (?) Perspektiven, man muss da ein bisschen aufpassen, aber das Gespinst zwischen den zentralen Personen verwebt sich immer stärker und Adam Kindred wird wie in einem Spinnennetz umsponnen. Alle Figuren kriegen ihre eigenen Probleme, neben Adam der Killer Jonjo, Ingram, der CEO der Pharmafirma, die Polizistin Rita, eine Prostituierte (hab’ ich wen vergessen?), am Ende der kurzen Kapitel deuten sich Zusammenhänge an und treiben das Lesen weiter. Andererseits entschleunigt diese Methode die Auflösung, ich war immer dran, die weniger wichtigen Personen nur flüchtig wahrzunehmen. Natürlich darf ein bisschen Kabale und Liebe nicht fehlen. Der Schluss ist kitschige Romanze pur und darf wohl ironisch gelesen werden, denn eigentlich bleiben alle Fragen offen.
Plötzlich fühlte er sich ganz leicht und gewichtslos, als würde er davonschweben, wenn sie seine Hand losließe. Diesen Tag würde ich mit offenen Armen willkommen heißen, dachte er. Er würde seine Erlösung bedeuten, eine Erlösung der wundersamen Art. Für ein paar Sekunden spürte er ein atemberaubendes Glücksgefühl: Mit Ritas Hilfe konnte er vielleicht sein altes Leben zurückerobern, wieder Adam Kindred werden, welche Gefahren auch immer damit verbunden waren – wieder Adam Kindred sein und die Wolken dazu bringen, dass sie ihren Regen hergaben. Er hatte die starke Gewissheit, dass jetzt alles gut wurde, obwohl er sich gleichzeitig eingestehen musste, das so etwas in der komplizierten, schwierigen Welt der Sterblichen unmöglich war. Aber wenigstens hatte er Rita, und das war alles, worauf es ankam. Jetzt hatte er Rita.
Und das bleibt, dachte Adam. Das und die Sonne und das blaue Meer.
Durchaus unterhaltsam, sorgfältig geschrieben, natürlich zu lang.
2009 450 Seiten
Das erste Kapitel als Leseprobe des Berlin Verlags
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