Marie NDiaye: Drei starke Frauen
Drei Geschichten – ein Roman?
Die erste Geschichte: Norah kommt aus Europa zurück nach Afrika, weil ihr Vater es will, weil er sie braucht, um aus einer verzweifelten Situation zu finden. „Dieser Mann, der es immer verstanden hatte, eine Atmosphäre von dumpfer Angst um sich zu verbreiten, und den niemand je eingeschüchtert hatte, wirkte starr vor Entsetzen.“ Norah ist Afrika fremd geworden mit seiner nicht hinterfragten Männerdominanz, sie hat es geschafft, ist Anwältin geworden, ihr Vater, der Versager, kann ihre höhere, überlegene Position nicht akzeptieren, er schwebt weiter über ihr, in ihrer Phantasie sitzt er oben in seinem Flammenbaum vor dem Haus.
Ihr Vater, dieser erledigte Mann, erstrahlte in einem fahlen Licht.
Was für ein böses Omen!
Sie wollte aus diesem unseligen Haus so schnell wie möglich fliehen, doch sie hatte das Gefühl, sie habe sich, da sie akzeptiert hatte, hierherzukommen und den Baum ausfindig machen konnte, auf dem ihr Vater nistete, schon zu weit eingelassen, um einfach den Blick abzuwenden und nach Hause zurückzukehren.
Nach Hause, das ist Europa. Khady Demba ist Kindermädchen in diesem „unseligen“ Haus und ihre Geschichte ist die dritte im Buch. Ihr Mann ist tot, er war ihr einziger Halt, nur die Erinnerung an seine Wärme lässt sie weiterleben. Die Familie des Mannes verstößt sie, ihr Schicksal ist grausam und Marie NDiaye lässt den Leser nicht wegschauen.
Khady wußte, daß sie im Unrecht waren, doch auch, daß sie keine Möglichkeit hatte, ihnen das zu zeigen, außer einfach da zu sein in ihrer offenkundigen Ähnlichkeit mit ihnen selbst, und da sie wußte, daß das nicht genügte, hatte sie aufgehört, sich darum zu bemühen, ihnen ihre Menschlichkeit zu beweisen.
Ihre einzige Hoffnung ist Frankreich, Europa, wo ihre Cousine lebt. »Wenn du drüben bist, bei Fanta, wirst du uns Geld schicken. Fanta muß jetzt reich sein, sie ist Lehrerin.«
Khady Demba erlebt, was Millionen Flüchtlinge erleben, die ins erträumte Paradies Europa wollen. Den Zaun überwinden, „der Afrika von Europa trennte“. Ihr Körper wird gequält, misshandelt, zerstört, sie erkennt sich nicht mehr in ihrem „im Rückspiegel eines Lastwagens erhaschte(n) Abbild des eingefallenen, grauen Gesichts mit dem rötlichen Haarschopf […], jenes Gesichts mit den schmal gewordenen Lippen und der vertrockneten Haut, das jetzt also das ihre war und von dem man nicht mit Gewißheit hätte sagen können, dachte sie, ob es einer Frau gehörte, ebensowenig wie von ihrem spindeldürren Körper, und dennoch blieb sie Khady Demba, einzigartig und notwendig in der Ordnung der Welt, auch wenn sie jetzt immer mehr all den umherirrenden, ausgehungerten Gestalten mit den verlangsamten Bewegungen glich, die durch die Stadt schweiften, auch wenn sie ihnen so sehr glich, daß sie dachte: Was gibt es zwischen ihnen und mir für einen wesentlichen Unterschied?, worauf sie innerlich lachte, über ihren eigenen guten Witz entzückt, und sich sagte: Der Unterschied ist, daß ich ich bin, Khady Demba!
Das Mädchen Khady Demba beschwört ihr Leben in ihrem Namen und das macht ihre Stärke aus, aber sie schafft es nicht,
und dann gab sie auf, ließ los, fiel sanft nach hinten und dachte dabei, es sei sicher das Wesen von Khady Demba, weniger als ein Hauch, eine winzige Luftbewegung, nicht auf der Erde zu landen, sondern in der Schwebe zu bleiben, ewig, kostbar […]
Das bin ich, Khady Demba, dachte sie noch in dem Augenblick, da ihr Schädel auf dem Boden aufschlug und sie mit weitgeöffneten Augen hoch über dem Zaun einen Vogel mit langen, grauen Flügeln ruhig kreisen sah – das bin ich, Khady Demba, dachte sie im Schwindel dieser Offenbarung, wissend, daß sie dieser Vogel war und daß der Vogel es wußte.
Die zweite Geschichte, von Fanta, der Lehrerin, wird erzählt von ihrem Mann Rudy. Rudy ist Franzose, Europäer, Fanta kommt aus Afrika und ist doch die Stärkere. Rudy ist angesichts dieser Situation verunsichert, er schafft den Aufstieg nicht, er reicht nicht heran an die bewunderte Fanta. Auch in dieser Geschichte geht es um Fall- und Steighöhen, man strebt vom Boden weg, auch von der Heimat, der Herkunft, der Familie, was sich erreichen lässt, ist das Gefühl zu schweben “wie ein unentschlossener kleiner Geist, er streifte den Fliesenboden nur ganz leicht mit den Füßen, schien manchmal sogar über den Boden zu schweben, als scheute er die Berührung mit dem Haus seines Vaters, genauso, dachte Rudy, wie er sich von seinem Vater selbst vorsichtig fernhielt.” Manchmal kommt es ihm vor, als hätte auch Fanta einen schwebenden Gang, “wie mit Flügeln”. Für Rudy ist keine Erhebung mehr vorgesehen und auch keine Flucht, so sehr er sie auch mit seinem Auto sucht.
Als er über sich ein Flügelschlagen hörte, ein sanftes Rauschen von Federn und warmer Luft in der Stille, blickte er auf.
Wie auf ein vereinbartes Zeichen schoß der Bussard auf ihn nieder.
Er hob beide Arme, um seinen Kopf zu schützen. Unmittelbar bevor er ihn berührte, stieg der Bussard wieder auf.
Er stieß einen einzigen, zornerfüllten Schrei aus. Rudy stürzte ins Auto, verließ den Feldweg im Rückwärtsgang und fuhr langsam wieder auf die Straße.
Denn war er in gewisser Weise jetzt nicht würdiger, geliebt zu werden, als noch an diesem Morgen?
Und konnte sie das, von der erhabenen Warte aus, auf der sie stand und von der aus sie in der Lage war, die Angriffe eines ihr ergebenen Vogels auf ihn zu lenken, konnte sie das nicht verstehen?
Die Herkunft lässt keine/n los, nicht der “Heimat”-Kontinent, nicht Vater und Mutter, man hasst und braucht sie, träumt von ihnen und sehnt sich nach ihnen genauso sehr wie danach, endlich das eigene Leben zu finden.
Oh, wie es ihr bereits leid tat, nachgegeben zu haben, wie sehr sie sich wünschte, nach Hause zurückzukehren und sich um ihr eigenes Leben zu kümmern.
Oh, was konnte er tun, da er sie doch liebte?
Ein hartes Buch, ein trauriges Buch, ein brutal realistisches Buch voller Phantasien und voller Symbole und voller beschwörender Sätze, die mit „Oh“ beginnen. Ein Buch auch über die Männer, doch „während die Frauen in sich selbst Mittel und Wege finden, alles auszuhalten, geben die Männer die erlebte Gewalt weiter und setzen so fatale Ereignisketten in Gang“ (Felicitas von Lovenberg, FAZ). Ein niederschlagendes Buch, weil die „Stärke“ der Frauen doch nur im besseren Aushalten, in Resignation, in Abstumpfung, in der Annahme des ihnen zugewiesenen Schicksals bestehen kann. Ein europäisches Buch mit anfangs und insgesamt irritierenden magischen Flügelschlägen, die „Engführung von Analyse und Gefühl“ ist erstaunlich. (Ina Hartwig, SZ)
2009 340 Seiten
Audiobeitrag des Literaturmagazins von WDR 5
3SAT-Literaturgespräch mit Video
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In Europa, in Frankreich bleibt Marie NDiaye in ihrem Roman „Mein Herz in der Enge“, doch geht es hier noch magischer zu.
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