Nachrichten vom Höllenhund


Stamm
21. Oktober 2010, 09:46
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Peter Stamm: Wir fliegen

(Erzählungen)

Den Gefühlen ist nicht zu trauen, sie sind ungenau. Genauigkeit aber war immer dein höchstes Gebot. […]

Du liebst diese Dörfer, die Landschaften, aber wenn du sie malst, müssen sie dir einerlei sein. Du hat­test es im Scherz gesagt, aber es ist wahr: Du arbeitest aus einer leidenschaftlichen Gleichgültigkeit heraus.

Es ist schwer zu erklären und schwer zu verstehen. Du malst, was du siehst, mit der größtmöglichen Genauigkeit, aber es geht dir nicht um die Genauigkeit der Abbildung. Du versuchst, das Gefühl einzufangen, das ungenaue Gefühl so genau wie möglich festzuhalten. Was zählt, ist die Entschie­denheit.

Dein Blick ist kalt, aber nicht gefühllos. Die Kälte des Blicks ist Bedingung. Du darfst nicht mitschwingen, wenn du klar sehen willst.

Das ist die Selbstdarstellung des Malers aus der letzten Geschichte “In die Felder muss man gehen …”. Es kann auch die Beschreibung des Schreibers Stamm sein. Seine “wahre Liebe gilt den Skizzen, den Stimmungen. Dafür braucht es nicht viele und keine aufdringlichen Wörter und keine großen Sätze.

In den kurzen Texten, sachlich und nüchtern alle bis auf einen, scheitern die Menschen am Glück und fügen sich in das Trostlose ihres Lebens. “Es sind diese Momente, in denen sich etwas verändert im Leben, in denen etwas geschieht, man merkt es kaum.” (Klappentext) Die Skizze, die Episode reicht dafür aus, sie lässt dem Leser die Freiheit zu verstehen. Stamm interessiert sich für seine Menschen, er beschreibt präzise, er rückt ihnen nicht zu nahe, wird trotzdem intim.

So gehen sie los, die Erzählungen:

Es ist seltsam, dass man durch den größten Lärm hindurch ein ganz leises Geräusch hört, wenn man darauf gewartet hat. (Die Erwartung)

Heidi zeichnete das Mädchen aus der Erinnerung. (Drei Schwestern – die beste)

Luzias Mutter war mit vierzig Jahren verrückt geworden. (Die Verletzung)

Die Badeanstalt unten am Fluss war geschlossen, der Eingang verriegelt. (Männer und Knaben)

Die Erzählung “Kinder Gottes” fällt etwas aus dem Rahmen. Der junge Pfarrer ist in seiner stupiden Gottgefälligkeit, die in jedem Denkenden einen Kommunisten sieht, eine Karikatur, Stamm erlaubt sich hier die ironische Distanz, auch in der Sprache, einer Parodie der erbauenden Heiligenerzählung.

Als es aber Februar wurde, war es so weit: Und das Kind wurde geboren. Michael stand Mandy bei und Schwester Ulla, die er gerufen hatte. Wie es sich herumsprach, versam­melten sich draußen auf der Straße die Leute des Dorfes und warteten still darauf, dass es geschehe. Es war schon dunkel, bis es geschah, dass das Kind geboren war und Schwester Ulla an das Fenster trat und es hochhielt: dass alle draußen es sehen konnten. Es war aber ein Mädchen.

Michael saß an Mandys Bett und hielt ihre Hand und schaute auf das Kind. Schön ist es nicht, sagte Mandy, aber das war eine Frage. Und Schwester Ulla fragte die gewor­dene Mutter: wohin sie denn nun gehen wolle mit dem Kind, wenn sie dem Pfarrer den Haushalt wohl nicht mehr führen könne für Geld. Da sagte Michael: Wer die Braut hat, der ist der Bräutigam. Und küsste Mandy so, dass die Schwester es sehen konnte. Und die erzählte es später allen: Dass dieses Versprechen gegeben worden war.

Weil das Kind nun aber nicht Jesus heißen konnte, hießen sie es Sandra.

Das ist aber nicht typisch!

2008            175 Seiten (TaBu)

+2

 

Peter Stamm: An einem Tag wie diesem

Andreas, Deutschlehrer in Paris, ist mit seinem Leben eigentlich zufrieden, aber eher deshalb, weil er wenig erwartet. Er kommt mit seinen Schülern gut, mit seinen Kollegen mehr schlecht als recht aus, er findet zu beiden keine Beziehung. Trotz seiner vielen Kontakte mit Frauen gelingt es ihm nicht, eine dauerhafte Partnerschaft zu finden. Er trauert verpassten Gelegenheiten, einem selbst geregelten Leben, sich selbst nach.

Als er wegen Anzeichen für Lungenkrebs in die Klinik muss, wartet er den Befund nicht ab, sondern flieht. “An einem Tag wie diesem ändert Andreas sein Leben. Ihn packt eine Sehnsucht, die zwischen Heimweh und Fernweh nicht mehr unterscheidet. Er wirft alles hin, verkauft seine Wohnung und kündigt seine Stelle in Paris. […] Die Gleichheit der Tage war sein einziger Halt, jetzt hofft er auf ein Wunder und darauf, dass alles neu beginnt. Seine Reise führt ihn in die Provinz seiner Jugend und wieder weg bis ans Ufer des Atlantiks, in die Arme einer Frau, deren Liebe er beinah verspielt hatte.” (Klappentext – und damit ist eigentlich alles gesagt)

Das klingt pathetisch, kitschig am Ende, mag es auch sein, obwohl Andreas auch jetzt sein Leben NICHT ändert, sondern sich weiter treiben lässt. Einen Neu-Beginn sucht man nicht in der Heimatstadt, nicht in der Schweiz. Das beschworene Pathos kommt auch deshalb nicht auf, weil Stamm ein sehr nüchterner Erzähler ist. Auch in der längeren Erzählung bleiben die Sätze kurz, schmucklos, deuten Lebensversuche an. Dies gelingt aber in den kürzeren Geschichten besser, weil es reicht, das täglich Gleiche zu skizzieren und die eher vom Zufall bestimmten Abweichungen der Lebenslinien davon einfallen zu lassen. Im Roman, auch wenn er dünn ist, wiederholt sich vieles, Handlung und banale Reflexionen.

Andreas ging immer geradeaus. Er hatte kein Ziel, er wollte einfach weg aus seinem Viertel. Er lief vor der Krankheit davon, die sein Leben war, seine Arbeit, seine Wohnung, die Menschen, die er seine Freunde nannte oder seine Geliebten. Hier auf der Straße kannte ihn niemand, hier war er nur ein Passant wie tausend andere, die ihm entgegenkamen oder die er überholte. Hier hatte er keine Vergangenheit und keine Zukunft, nur eine flüchtige Gegenwart. Er musste immer weitergehen, er durfte nicht anhalten, nicht stillstehen, dann konnte ihm nichts geschehen.

Der Himmel war bedeckt, aber es war warm. Andreas schwitzte. Sein Körper fühlte sich fremd an, taub. Es war ihm, als bewege er sich ohne sein Zutun. Weiter, immer weiter. Er kam zur Seine und folgte ihr nach Westen. Er sah den Eiffelturm auftauchen und ließ ihn hinter sich. Er ging auf der schmalen Schwaneninsel auf die kleine Freiheitsstatue zu, das Modell jener Statue, die Frankreich den Amerikanern geschenkt hatte zur Feier der Unabhängigkeit. Während seiner ersten Zeit in Paris war er oft hier gewesen. Wenn er einsam war und traurig. Nachdem Fabienne in die Schweiz gereist war und später, wenn eine Frau ihn verlassen hatte, war er hierher gekommen und hatte lange unter den Trauerweiden gestanden und den Frachtschiffen nachgeschaut und die hässlichen Bürogebäude am südlichen Ufer betrachtet. Es war einer der wenigen Orte, an denen Paris nicht schön war, einer der wenigen Orte, die nicht von jenem silbernen Glanz überzogen waren, dem Glanz, den er so liebte, wenn es ihm gut ging, aber den er jetzt nicht ertrug.

Peter Stamm „beherrscht wie kaum ein anderer seiner Generation die Kunst der höchst präzisen, zum Schein nur schlichten Form“. (Felicitas von Lovenberg, FAZ), dennoch hält sie den Roman für “schwer zu verkraften”, weil ihr der „Mittvierziger mit emotionalem Totalschaden“ nicht nur unsympathisch, sondern auch gleichgültig ist. Ganz so schlimm ist’s, finde ich, nicht.

2006     205 Seiten

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