Thomas Bernhard: Gehen
Von dem Einen sagen wir, er ist ein vorzüglicher Denker, von dem Andern sagen wir, er ist ein vorzüglicher Geher, aber wir können nicht von einem einzigen sagen, er sei ein vorzüglicher (oder ein ausgezeichneter) Denker und Geher zugleich. Andererseits sind Gehen und Denken zwei durchaus gleiche Begriffe und wir können ohne weiteres sagen (und behaupten) daß der, welcher geht und also der, welcher beispielsweise vorzüglich geht, auch vorzüglich denkt, wie der, der denkt und also auch vorzüglich denkt, auch vorzüglich geht. Wenn wir einen Gehenden genau beobachten, wissen wir auch, wie er denkt. Wenn wir einen Denkenden genau beobachten, wissen wir auch, wie er geht.
Ist das Philosophie? Ist das Hirn- und Sprachschwurbel? Oder beides? Bernhard warnt vor (sich): in solchen Gedanken sind wir verloren […] und es ist zwecklos sich längere Zeit mit solchen Gedanken zu beschäftigen. Aber Bernhard schreibt viele Bücher über solche Gedanken. Hellstes Erkennen in sulzigster Syntax. Serieller Treibsand. Durchdrehen und Festfressen zugleich. „Tschechoslowakische Ausschußware“ oder „erstklassigste englische Stoffe„? Denkstellen. Denn jedes Denken führt ans End‘ der Welt: ins Irrenhaus.
Hören wir etwas, sagt Oehler Mittwoch, prüfen wir, was wir hören und prüfen, was wir hören, so lange, bis wir sagen müssen, das Gehörte ist unwahr, es ist eine Lüge, das Gehörte. Sehen wir etwas, prüfen wir das, was wir sehen, so lange, bis wir sagen müssen, das, was wir sehen, ist entsetzlich. So kommen wir das ganze Leben nicht mehr aus Entsetzlichkeit und Unwahrheit und aus Lüge heraus, sagt Oehler. Tun wir etwas, so denken wir über das, was wir tun, so lange nach, bis wir sagen müssen, es ist etwas Gemeines, es ist etwas Niedriges, es ist etwas Unverschämtes, es ist etwas ungeheuerlich Trostloses, was wir tun, und daß naturgemäß falsch ist, was wir tun, ist selbstverständlich. So wird uns jeder Tag zur Hölle, ob wir wollen oder nicht, und was wir denken, wird, wenn wir es überdenken, wenn wir dazu die erforderliche Geisteskälte und Geistesschärfe haben, in jedem Falle immer zu etwas Gemeinem und Niedrigem und Überflüssigem, was uns lebenslang auf die erschütterndste Weise deprimiert. Denn alles, was gedacht wird, ist überflüssig. Die Natur braucht das Denken nicht, sagt Oehler, nur der menschliche Hochmut denkt sein Denken ununterbrochen in die Natur hinein. Was uns durch und durch deprimieren muß, ist die Tatsache, daß wir durch dieses unverschämte Denken in die gegen dieses Denken naturgemäß völlig immunisierte Natur hinein nur immer noch in eine größere Deprimation hineinkommen, als die, in der wir schon sind. Die Zustände werden durch unser Denken naturgemäß, sagt Oehler, zu immer noch unerträglicheren Zuständen. Denken wir, wir machen die unerträglichen Zustände zu erträglichen Zuständen, so müssen wir bald einsehen, daß wir die unerträglichen Zustände nicht zu erträglichen und auch nicht zu erträglicheren Zuständen gemacht haben (machen haben können), sondern nur noch zu noch unerträglicheren Zuständen. Und mit den Umständen ist es wie mit den Zuständen, sagt Oehler, und mit den Tatsachen ist es dasselbe. Der ganze Lebensprozess ist ein Verschlimmerungsprozeß, in welchem sich fortwährend, dies Gesetz ist das grausamste, alles verschlimmert. Sehen wir einen Menschen, müssen wir uns in kurzer Zeit sagen, was für ein entsetzlicher, was für ein unerträglicher Mensch. Sehen wir die Natur, müssen wir sagen, was für eine entsetzliche, unerträgliche Natur. Sehen wir etwas Künstliches, gleich welches Künstliche, müssen wir in kurzer Zeit sagen, was für eine unerträgliche Künstlichkeit. Gehen wir, sagen wir ja auch in der kürzesten Zeit, was für ein unerträgliches Gehen, wie, wenn wir laufen, was für ein unerträgliches Laufen, wie, wenn wir stehen, was für ein unerträgliches Stehen, wie, wenn wir denken, was für ein unerträgliches Denken. Machen wir eine Begegnung, denken wir in der kürzesten Zeit, was für eine unerträgliche Begegnung. Machen wir eine Reise, sagen wir uns in der kürzesten Zeit, was für eine unerträgliche Reise, was für ein unerträgliches Wetter, sagen wir, sagt Oehler, über gleich was für ein Wetter, wenn wir über, gleich was für ein Wetter, nachdenken. Ist der Verstand ein scharfer, ist das Denken das rücksichtsloseste und das klarste, sagt Oehler, müssen wir in der kürzesten Zeit von allem sagen, daß es unerträglich und entsetzlich sei. Die Kunst ist also zweifellos die, das Unerträgliche zu ertragen und, was entsetzlich ist, nicht als solches, Entsetzliches zu empfinden. Diese Kunst als die schwierigste zu bezeichnen, ist selbstverständlich.
Dazu und dagegen ist nicht mehr zu sagen. Womöglich findet sich im Zusammenklang der Rhythmen von Gehen und Denken sogar der Hauptgrund für den Aufstieg des Menschen zum Spitzenprodukt der Evolution. (Thomas Teupitz, Hamburger Abendblatt)
1971 100 Seiten
Gehen und Denken mit Thomas Bernhard: ein Wandertipp
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