Nachrichten vom Höllenhund


Rachman
8. Dezember 2010, 17:41
Filed under: - Belletristik

Tom Rachman: Die Unperfekten

40 Seiten sind für Tom Rachman genug, um ein Leben zu skizzieren. Etwas Vergangenheit, etwas Herkunft, ein Blick in die Zukunft, die meist ungewiss, oft ein Abgrund ist, und eine Szene aus der Gegenwart der 00er-Jahre, wo sich die Wege und Personen kreuzen, manchmal nur tangieren, wo aus den Einzelschicksalen der Roman wird. Alle arbeiten in verschiedenen Positionen für die Zeitung, geben ihr alles oder zu wenig, fühlen sich überflüssig, übergangen oder ausgenutzt, kleben doch an ihrer Arbeit, weil sie sie lieben oder keine andere haben und weil ihr Privatleben gerade in einer Krise steckt. In den 40 Seiten gelingt es Rachman, Essenzen zu ziehen, Spots zu setzen, den Leser für die Person zu interessieren, weil er Privates und Beruf aufeinander bezieht, weil er auch zeigt, was sich die Figuren nicht eingestehen wollen, wie sie sich eine Bedeutung vortäuschen. Und auch, das ist toll, die Sprache passt sich den Charakteren an, wird schnell, kalt, jovial, unsicher, flach. Man vergisst die Personen wieder, doch tauchen sie vernetzt in den anderen Kapiteln wieder auf.

Auf dem Weg zum Ausgang tippt ihr jemand auf die Schulter. Sie fährt herum, denkt gereizt, schon wieder Winston Cheung. Aber der ist es nicht.
Sie tritt verblüfft einen Schritt zurück. »Ach, du bist es, Dario!«
Dario de Monterecchi ist der Italiener, mit dem sie in Rom zusammengelebt hat, als sie um die zwanzig war. Als sie Rom 1994 verließ, um als Reporterin nach Washington zu gehen, verließ sie auch ihn. Und jetzt steht er vor ihr, grau melierte Schläfen, Tränensäcke, immer noch leidlich gutaussehend, wenn auch mit erschlafften Gesichtszügen und der schläfrigen Selbstaufgabe eines Familienvaters. »Entschuldige, dass ich mich so anschleiche«, sagt er. »Hab ich dich erschreckt?«
»Da musst du früher aufstehen. Aber ich bin völlig überrascht. Mein Gott, ich kann nicht glauben, dass du’s bist. Wie geht’s dir?«
»Gut«, sagt er. »Und du warst brillant vorhin. Ich bin schwer beeindruckt. Gehst du etwa schon?«
»Leider, ja. Ich muss. Meine Redaktion braucht mich«, sagt sie. »Übrigens, tut mir leid, dass ich mich nicht gemeldet habe, seit ich wieder in Rom bin. Das war blöd. Du hast bestimmt gehört, dass ich wieder hier bin, oder?«
»Natürlich.«
»Von wem?«
»Gerüchteweise – du weißt doch, wie klein Rom ist.«
»Verrückt, da kreuzt plötzlich ein Stück Privatleben auf, gerade wenn ich auf Profi gepolt bin. Das bringt mich ganz schön aus dem Takt. Vielleicht glaubst du es mir nicht, aber ich wünschte, ich müsste mich jetzt nicht schon auf den Weg machen.«
»Nicht mal Zeit für eine Mittagspause?«
»Mittagspausen habe ich nicht, leider. Die erste Aus­gabe muss in ein paar Stunden raus. Wenn ich nicht da bin, geht die Welt unter. Was machst du überhaupt hier bei dieser Veranstaltung?«
Er reicht ihr seine Visitenkarte. »Oh nein!« Sie liest die Karte. »Ich dachte, ich hätte so was gehört. Aber Berlus­coni? Das ist bitter.«
»Ich mache die Pressearbeit für seine Partei, nicht für ihn.«
Sie zieht skeptisch die Augenbrauen hoch.
»Ich war doch immer schon konservativ«, sagt Dario, »vergessen?«
»Klar, weiß ich. Ich weiß noch, wer du bist.«
»Na, was soll’s«, sagt er, »ich will dich nicht aufhalten.« Er küsst sie auf die Wange. Sie streicht ihm über den Rü­cken. »Du musst mich nicht trösten.« Er lächelt. »Ich bin dir nicht mehr böse.«
Sie schnappt sich ein Taxi. Während der Fahrt in Rich­tung Innenstadt widmet sie sich ihrem BlackBerry, auf dem eine Nachricht von Menzies nach der anderen drängt: »Ge­neral Abizaid bei Senatsanhörung zum Irak. Aufmacher?? Ruf an, bitte!«

Am Ende jedes Kapitels schreibt Rachman kursiv die Geschichte der Zeitung fort – von 1953 bis 2007. Er zeigt, wie sie von ihren Verlegern abhängig ist, die Geld geben oder auch nicht, denen die Zeitung Herzensangelegenheit, Anhängsel ihres Konzerns oder auch egal ist – weil sie, wie Oliver Ott in der dritten Generation, ihren Kontakt auf Schopenhauer beschränken, den Basset. Die Verleger und auch die – meisten – Zeitungsleute stammen aus den USA; weshalb die Zeitung gerade in Rom ihren Sitz hat, wird mir nicht recht klar, erhöht aber für Personal und Leser den Reiz am Ambiente. Rachman selbst war für die Nachrichtenagentur AP in Rom tätig.

Das Lesen macht Spaß, weil Rachman Stil hat und Pieke Biermann auch die Anspielungen und Vergleiche stilsicher übersetzt, weil sich distanzierende Ironie und Mitgefühl nicht ausschließen, weil Thema, Gestaltung und Sprache aktuell sind. Kein politisches Buch, auch keine direkte Gesellschafts- oder Medienkritik, ein bisschen Wehmut über den Niedergang des Mediums Zeitung und ihrer altmodischen Macher.

Der Roman hat einen Abspann, der das weitere Leben der Protagonisten andeutet. Mehr Seiten, mehr Kapitel hätte er nicht vertragen.

2010       390 Seiten

 book2look-Leseprobe

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