Nachrichten vom Höllenhund


Petrović
1. Januar 2011, 17:06
Filed under: - Belletristik

Goran Petrović: Die Villa am Rande der Zeit

Man spielt beim Lesen ja immer mit. Manche Romane nehmen das wörtlich und lassen den fiktiven Leser selbst eine Rolle im „Roman im Roman“ spielen. Petrović richtet in der „Villa am Rande der Zeit“ einen Treffort ein, wo alle Personen zusammenkommen, die zur selben Zeit im selben Buch lesen. Anastas Branica findet in der Landschaft des Buches seine Geliebte und baut ihr ein Haus, eben diese Villa in der imaginären Dimension „am Rande der Zeit“. Haus und Garten beschreibt er detailliertest in Briefen an Nathalie Houville, damit sie sich dort vereinen können, wenn sie gleichzeitig in den Briefen lesen. Um die Visionen zu perfektionieren, verschuldet er sich, verliert aber Nathalie doch an deren realbanale Lebensvorsehung. Anastas Branica lässt seine Briefe „in kostbares Saffianleder“ zum Buch „Mein Vermächtnis“ binden, das aber niemand kauft, weil es ein Buch ohne handelnde Personen ist.

50 Jahre nach Branicas Tod nimmt Adam Lozanić den Auftrag an, das vermeintlich einzig noch verbliebene Exemplar dieses Romans behutsam zu lektorieren, Fehler zu verbessern, ohne inhaltlich stärker einzugreifen. Damit beginnt Petrović’ Roman, damit wird er nach 200 Seiten fortgesetzt. Als Adam Lozanić beginnt zu lesen, trifft er im Buch auf das Mädchen Jelena, das seinerseits gerade gemeinsam mit Natalija Dimitrijević, einer älteren Dame, die Jelena für das gemeinsame Lesen bezahlt, usf. Die Gestalten des Romans existieren auch in der Realwelt, es wird ein bisschen unübersichtlich.

Seit einem Jahr kam es ihm nämlich von Zeit zu Zeit so vor, als begegnete er beim Lesen anderen Lesern. Von Zeit zu Zeit, nicht oft, aber mit jedem Mal deutlicher wurde er sich dieser anderen Menschen bewusst, die zur selben Zeit wie er das gleiche Buch lasen und die er in der Regel nicht kannte. An einige Begebenheiten erinnerte er sich, als hätte er sie tatsächlich erlebt. Mit allen Sinnen erlebt. Natürlich hatte er niemandem davon erzählt. Man hätte ihn für verrückt gehalten. Oder zumindest für überspannt. Und um ehrlich zu sein: Wenn er ernsthaft über diese merkwürdige Erfahrung nachdachte, gelangte selbst er zu dem Schluss, dass er sich hart am Rande des gesunden Menschenverstandes bewegte. Oder bildete er sich das alles nur ein, weil er zu viel las und zu wenig lebte? […]
Einige Augenblicke lang erwog Adam, das Mädchen abzupassen. Das hätte bedeutet, selbst in den großen Lesesaal zu gehen, sich das gleiche Wörterbuch zu bestellen und zu warten, dass sie zurückkehrte. Möglicherweise war dies einer jener Tage, an denen er so tief in das Gelesene einzudringen vermochte, dass er aller anderen Leser des gleichen Buches gewahr wurde. Auf diese Weise hatte er gegen Ende des siebten Semesters eine vielversprechende Romanze mit einer Kommilitonin erlebt, der schönsten in Allgemeiner Literaturwissenschaft, doch als er versucht hatte, sich ihr auch in der Wirklichkeit, in der Eingangshalle der Fakultät, zu nähern, hatte sie sich einfach abgewandt.
»Gehen Sie gerne am Fluss spazieren?« Er hatte nicht aufgegeben, weil er sie daran erinnern wollte, dass sie erst einen Tag zuvor zur selben Zeit eine realistische Novelle gelesen hatten und den ganzen Nachmittag gemeinsam an dem detailliert geschilderten Ufer entlangspaziert waren.
»Ja, wenn du zur anderen Seite hinüberschwimmst«, hatte sie ihn vor allen anderen auflaufen lassen.
Damals hatte er das Gebäude eine Woche lang nicht betreten können, denn der Hohn des Mädchens schien noch überall nachzuhallen. Wozu also sollte er sich nun dieser Schönen mit dem Glockenhut nähern, wenn auch sie ihn womöglich in der Wirklichkeit nicht wiedererkennen würde? Dieses simultane Lesen drohte zur Obsession zu werden, dachte Adam besorgt, es führte allmählich zu weit.

Die Idee ist reizvoll, bedarf aber, um zu funktionieren, genauest ertüftelter Rahmenbedingungen. Petrović strapaziert dieses Konstrukt, verliert sich im Mittelteil in den Villaphantasieplänen und schildert die „Treffen“ zwischen Anastas und Nathalie als kitschiges Liebesgeplänkel, kapitellang. Eingebettet ist die verschachtelte Leseimagination in Abhandlungen zur serbozentrierten Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zur Archäographie, zu Literatur und anderen Künsten, verziert mit allerlei ortstypischen Spezereien aus nur noch in den literarischen Erinnerungen vorhandenen Läden.

Petrović belastet die Methode „vollständiges Lesen“, die den Leser in den Büchern agieren lässt, um nach dem Krieg bourgeoise Relikte aus Literatur und Geschichte tilgen zu lassen, ja sogar, um missliebige Personen zu relegieren. In nicht mehr erwarteter Rasanz verzwirbeln sich Personen aus alten und neuen Zeiten.

Dass alles plausibel wird, sollte man nicht erwarten, Branicas „Vermächtnis“ scheint mir aber überbeansprucht. Stilistisch fein, auch in der Übersetzung, zuweilen in seiner altertümelnden Sprache auch maniriert, liest sich der Roman vorne und hinten recht schnell und gern, in der Mitte bläht er sich. So wie die „schönsten Naturbeschreibungen der gesamten Weltliteratur“ in Turgenevs „Aufzeichnungen eines Jägers“ wirkt auch „Die Villa am Rande der Zeit“ aus der Zeit gefallen.

2000            395 Seiten

3-

Leseprobe und Informationen bei dtv


Kommentar verfassen so far
Hinterlasse einen Kommentar



Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..



%d Bloggern gefällt das: