Nachrichten vom Höllenhund


Nadj Abonji
6. Januar 2011, 20:58
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter:

Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf

In der Vojvodina in Nordjugoslawien lebt eine ungarische Minderheit, die Kinder lernen serbokroatisch erst in der Schule. Ildikó, die Ich-Erzählerin, kommt nicht mehr dazu, weil sie ihre Eltern, die in der Schweiz Arbeit gesucht haben, nachholen. Zürich und Novisad, 1000 km Luftlinie, mitten in Europa und doch zwei Welten, drei, wenn man erfährt, dass die Ungarn nicht  in Jugoslawien heimisch waren und auch in der Schweiz Fremde bleiben. Anfangs überbrückt man die Entfernung durch häufige Besuche in der alten Heimat, bringt Westwaren aus der Schweiz mit und deckt sich mit Würsten und Speck ein, die Fahrten werden seltener, man hat in der Schweiz zu tun, man will sich, wie die Mutter sagt, dort „ein Schicksal erarbeiten“. Ildikó und ihre Schwester Nomi versuchen beide Welten zu begreifen, mit dem Verstand, mit dem Gefühl, und finden doch nur falsches Leben im falschen. In der alten Heimat warten zwar die Familienbande, aber auch der Staub, der Matsch, der Stillstand, z.T. romantisch verträumt. Die Schweiz glänzt, wenn man nicht zu genau hinschaut, aber das schafft Ildikó nicht. Sie ist gut in der Schule, studiert, bricht ab, hilft den Eltern in deren Café „Mondial“ (!), verliebt sich – in den Serben Dalibor, den sie nicht versteht – , wird entliebt, zieht aus. Die Eltern bringen das nicht mit ihren Vorstellungen in Einklang, ein Mädchen bleibt bei der Familie, bis es heiratet. Die Werte wandern nicht so schnell wie die Personen. Auch Ildikó erfährt immer stärker, dass sie in der Schweiz der SVP nur geduldet sind, solange sie schweizerisch funktionieren. Ildikó wird immer wütender, auch in ihrem Schreiben. Man fragt sich, ob sie in der Schweiz ankommen kann und will.

Die Welten verkomplizieren sich durch den Krieg in Jugoslawien, nicht mal in dem einen Land kommen die Menschen friedlich miteinander aus. Der Krieg schwappt in den Roman, Ildikó erlebt ihn nicht politisch, sondern als Gewalt an der Menschlichkeit, als unbegriffene Instanz, die Familien trennt, Leid bringt.

Es sind die kleinen Episoden des Alltags, die Ildikó erzählt, eines Alltags, der aber von der Weltgeschichte durchgeschüttelt wird. Es passiert gar nicht viel und doch Entscheidendes. Ildikó beobachtet und empfindet genau. Sie schreibt mit angehaltenem Atem, am Ende eines Abschnitts muss man auch als Leser Luft holen. Die Gedanken verwirbeln sich mit den Betrachtungen und den Gefühlen und den Dingen.

Als wir an den Pappeln vorbeifahren, mir dieses Flirren den Verstand raubt, unser schokoladefarbe­nes Schiff geräuschlos von einem Baum zum nächs­ten gleitet, dazwischen die Luft der Ebene, die sicht­bar wird, ich kann sie sehen, die Luft, die jetzt still­steht, weil die Sonne so erbarmungslos ist, da sagt mein Vater zur Klimaanlage hin, immer noch alles genau gleich, mit kleiner Stimme sagt er, hat sich nichts verändert, gar nichts.
Ich frage mich, ob sich mein Vater eine Truppe von professionellen Gärtnern wünscht, die zumin­dest die Äste zurechtstutzen – dem Wildwuchs Zivi­lisation entgegensetzen! – oder die mit effizienten Maschinen die die Kleinstadt vorankündigenden Pappeln fällen, ein für allemal! (Und wir würden auf einem dieser Strünke sitzen, mit unseren Blicken die Ebene, die sich mit Mittagshitze vollgesaugt hat, beherrschen, und mein Vater, der sogar einen Strunk besteigen müsste, sich einmal um die eigene Achse drehen würde, um dann mit der bitteren Stimme eines Menschen, der spät, aber besser spät als nie!, Recht bekommt, zu sagen: Endlich sind diese ver­dammten, staubigen Bäume weg.)

“Abonjis Geschichte ist gut, ein Ereignis aber ist ihre Sprache, die strömt und stockt und strömt, in langen Sätzen, ein Satz pro Absatz nicht selten, die mal sehnsüchtig ist und mal gehetzt, die überläuft vor Beobachtungen, Gedanken, Erinnerungen, minutiös wie der Off-Text einer Filmfassung für Blinde, wie die Szenenbeschreibung eines Films, der ihr Leben ist. Als schaute sie sich ihn von außen an, beteiligt und unbeteiligt zugleich.” (Tobias Becker, SPIEGEL)

Diese Art, sich von außen anzuschauen, erreicht Abonji auch durch eine neckische Sprachmarotte. Sie setzt den Relativsatz zum „ich“ in die 3. Person.

Ich, die sich nach dem Eimer bückt, ihn ins Becken hebt, am Hahn dreht, und während das Wasser einläuft, ziehe ich die Handschuhe an, die Hände, die das einlaufende Wasser nur noch dumpf spüren, und als der Eimer halbvoll ist, drehen die gelb eingepackten Finger in die falsche Richtung, das Wasser, das mit einem scharfen Strahl in den Eimer schiesst, auf die Haut, in die Augen spritzt, und ich, die wieder einen langen Moment wartet, drehe den Hahn zu, schaue ihr zu, wie ihr die Wassertropfen über das Gesicht laufen, und jetzt der unausweichliche Gedanke: Wir sind ein Herz und eine Seele gewor­den, ich und das Fräulein; und ich, die den Eimer packt, den Schrubber, gehe zum Fenster.

Ein interesanter Roman, weil die Fremdheiten der Welten subjektiv vermittelt werden und weil Melinda Naji Abonji (ausgesprochen: „Noh-tch Ó-bon-ji“) dafür einen eigenwilligen, aber sehr passenden Stil findet, aufgeregt, rhythmisch, musikalisch. Der Alltag erfindet sich sich nicht ständig neu, das kann im Roman nicht anders sein.

Die Preisrede der Autorin bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2010 war “Wort für Wort absichtsvoll gesetzt” (Florian Balke, FAZ) oder “freestyle improvisiert” (Christopher Schmidt, SZ)

2010              315 Seiten

2

 

“Zehn Seiten” vorgelesen von Melinda Naji Abonji

Video: Iris Radischs fahriger Lesetipp


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