Edgar Hilsenrath: Der Nazi & der Friseur
Itzig Finkelstein macht mit sich 1600 weiteren Passagieren der Exitus, einem der ersten Schiffe, die jüdische Überlebende nach dem zweiten Weltkrieg nach Palästina bringen, auf ins damals britische Mandatsgebiet. Er engagiert sich für den Aufbau des Staates Israel, will keine Bäume pflanzen – es gibt schon 6 Millionen -, sondern kämpfen, zur Not auch mit Waffen, er baut sich auch eine Existenz auf, als Friseur, das hat er in Deutschland gelernt. Schon bald hat er seinen Laden, nein Salon, nennt ihn wieder „Der Herr von Welt“, heiratet und könnte zufrieden sein.
Die Konkurrenz! Daß ich nicht lache! Wer kann schon mit Itzig Finkelstein konkurrieren? Ein Mann, der beliebt ist in dieser Stadt! Den man respektiert! Ein Idealist! Ein Redner! Ein Terrorist! Ein Haganahmann! Ein Frontkämpfer! Einer, der sich im Suezkanal die Füße wusch im Zeichen des Davidsterns! Ein Volksheld! Und noch dazu: ein guter Friseur, ein erstklassiger, ein wahrer Künstler!
Itzig Finkelstein findet aber keine Ruhe, denn in ihm wühlt ein Problem. Er kann es nicht loswerden, denn er kann mit niemandem darüber sprechen. Sein Unfried ist: Er ist nicht Itzig Finkelstein. Er ist Max Schulz, der SS-Mann, der Massenmörder, der auch seinen Jugendfreund Itzig auf dem Gewissen hat. Sie waren – nicht – zu verwechseln: „Mein Freund Itzig war blond und blauäugig, hatte eine gerade Nase, feingeschwungene Lippen und gute Zähne. Ich dagegen, Max Schulz, hatte schwarze Haare, Froschaugen, eine Hakennase, wulstige Lippen und schlechte Zähne.“
Moral kennt Max Schulz nicht, er will sie sich nicht leisten. Da er als Max Schulz gesucht wird, nimmt er die Identität Itzig Finkelstein an. Er ist so pervers, dass er sich sogar eine KZ-Nummer in den Unterarm tätowieren lässt. So schlägt er sich durch, bis er auf die „Exitus“ gerät, die bei der Ankunft in Palästina in „Auferstehung“ umgetauft wird.
Die Idee des Rollentausches ist vielleicht nicht ganz neu, man denke an Lubitschs Film „Sein oder Nichtsein“ oder an die Ähnlichkeit von Charlie Chaplins Friseur (!) mit Hitler. Hilsenrath lässt die Geschichte vom Täter erzählen, ein weiteres Tabu. Max Schulz rechtfertigt sich nicht, er lässt keine Grausamkeit seiner Biographie aus. Trotzdem verkommt er nicht zum Guten, seine Taten verraten ihn – und seinesgleichen – und klagen an. Er findet keine Ruhe mehr, er spricht in Gedanken mit dem „echten Itzig Finkelstein“, will damit seine Stachel loswerden.
Kennst du >Ihn<? Weißt du, wer der Mörder ist? Dein Mörder? Und der Mörder deines Vaters? Und der Mörder deiner Mutter? Soll ich dir das Geheimnis verraten?
Ha? Ich laß dich zappeln! Reiß ruhig deine toten Augen auf! Und spitze deine toten Ohren! Es wird dir nichts nützen. Ich verrate das Geheimnis nicht.
Lieber Itzig. Es heißt, daß man haßt, was man verleugnen will. Ich, Itzig Finkelstein, damals noch Max Schulz, habe immer wie ein Jude ausgesehen … obwohl das nicht stimmt. Aber man hat es gesagt. Ja, man hat es gesagt: Der sieht wie ein Jude aus!
Denk mal nach, Itzig. Schon aus diesem Grund hätt‘ ich euch hassen müssen. Um zu verleugnen, was ich gar nicht bin … bloß, weil ich Angst hatte, ich könnte es sein. Oder: weil sie glaubten, daß ich es bin, obwohl ich wußte, daß ich es nicht bin. Kapierst du das?
Na also. Du kapierst das. Ich auch. Trotzdem hab ich euch nicht gehaßt. Sonderbar … wie? Das stimmt aber. Ich, Itzig Finkelstein, damals noch Max Schulz, habe die Juden nie gehaßt. Warum ich euch nicht gehaßt habe? Ich weiß es nicht. Ich stelle nur fest: Ich, Itzig Finkelstein, damals noch Max Schulz, habe die Juden nicht gehaßt.
Was sagst du? Warum ich getötet habe? Ich weiß nicht warum. Vielleicht wegen der Stöcke? Da war mal ein gelber Stock und ein schwarzer Stock. Und andere Stöcke, farblose Stöcke. Und da waren Hände, viele Hände, die die Stöcke schwangen. Und jeder Stockschlag sauste auf meinen Hintern … oder auf den Hintern, den sie Seele nennen … denn die ist auch ein Hintern: die muß manchmal herhalten! Oder: oft! Oder: sehr oft!
Na also. So war das. Und ich wollte auch mal den Stock schwingen. Oder die Stöcke. Aber anders. Gewaltiger. Kapierst du das? Na also. Du kapierst das.
So gewaltig und maßlos hätt‘ ich den Stock oder die Stöcke aber nie schwingen können … wäre da nicht ein Befehl gewesen. Ein Befehl, der befahl: Schlag zu!
Verstehst du mich? Ohne Befehl hätt‘ ich nie gewagt, was ich gewagt hatte. Hätt‘ mich gar nicht getraut. Denn ich, Itzig Finkelstein, damals noch Max Schulz, war nur ein kleiner Fisch, ein ängstlicher, zappelnder, kleiner Fisch, der nur zuschlagen konnte, weil es erlaubt war.
Wir haben nicht nur Juden umgebracht. Wir brachten auch andere um. Wir haben auch andere erschossen und erhängt und vergast und totgeprügelt … andere … die keine Juden waren. Aber ich, Itzig Finkelstein, damals noch Max Schulz, wurde nur bei Judenmorden eingesetzt. Warum? Ich weiß nicht warum.
Es stimmt. Ich habe selber wie ein Jude ausgesehen … wenigstens dachten sie das … und deshalb mußte ich besser töten als die anderen … mußte ihnen zeigen, daß ich keiner war … ich meine … kein Jude war. Kannst du das verstehen? Wieviele ich umgebracht habe? Ich weiß es nicht. Ich hab sie nicht gezählt. Aber glaub mir, Itzig. Ich war kein Antisemit. Ich bin nie einer gewesen. Ich habe bloß mitgemacht.
Kannst du mich hören, Itzig? Und kannst du mich sehen? Komm! Spiel mit mir! Such mich! Wo bin ich? Wo hab ich mich versteckt?
Ha, ha, blinde Kuh! Such mich. Komm, such mich. Wo bin ich? In meinem Hotelzimmer? Falsch geraten! In meinem Bett? Ja! Aber nicht in Berlin. Und nicht im Hotelzimmer! Lieber Itzig. Ich habe kein Zimmer. Und mein Bett ist nur eine Schlafstelle, eine Koje … so ähnlich wie in Laubwalde … und doch nicht so. Denn ich, Itzig Finkelstein, bin ein freier Mann.
Die Freiheit muss er sich einreden, auch sein Engagement in und für Israel ist keine Buße, sondern entspringt zuerst seinem wenig reflektierten Geltungsbedürfnis, dem Wunsch, eine Rolle zu spielen. Ähnlich den “Mitläufern” der Nazis, den “Unzufriedenen”, wie sie Schulz‘ alter Lehrer Siegfried von Salzstange nennt.
»Ich dachte – hier wären nur die Leute aus Wieshalle und Umgebung«, sagte ich zu Herrn Siegfried von Salzstange. »Aber es sind mehr. Viel mehr! Ich sehe Millionen!«
»Hier ist fast ganz Deutschland versammelt«, sagte Herr von Salzstange.
»Was heißt: fast ganz Deutschland?«
»Nur die Unzufriedenen«, sagte Siegfried von Salzstange.
»Hier sind die Unzufriedenen ganz Deutschlands versammelt!«
»Die Kommunisten?« fragte ich.
Mein früherer Deutschlehrer schüttelte den Kopf. »Die anderen«, sagte er – »die anderen Unzufriedenen. Denn es gibt eine andere Unzufriedenheit, und die kann der Kommunismus nicht heilen.« Herr von Salzstange grinste schwach – sagte dann: »Wenigstens nicht so gründlich.«
»Wer denn?« fragte ich. »Wer kann sie heilen?« »Adolf Hitler«, sagte Siegfried von Salzstange. »Er ist der große Heiler.«
Mein früherer Deutschlehrer bohrte eine Weile nachdenklich in der Nase. Dann sagte er: »Hier sind alle versammelt, die irgendwann mal eins aufs Dach gekriegt haben – vom lieben Gott oder von den Menschen.«
»So«, sagte ich. »So ist das.«
»Ja, genau so«, sagte Siegfried von Salzstange, » – hier sind die verkrachten Existenzen versammelt – auch die Kurzatmigen und die Arschlecker von Beruf, Leute, die im Leben nicht richtig vorwärtskamen, entweder, weil sie keine Puste hatten und das planmäßige Kriechen nie richtig gelernt hatten, oder weil der Arsch, den sie leckten, unersättlich war.«
Mein Deutschlehrer grinste eine Weile verloren. »Und natürlich auch die anderen«, sagte er dann nachdenklich und blickte mich dabei ernst an: » – wie sagte ich doch vorhin: die irgendwann mal eins aufs Dach gekriegt haben – vom lieben Gott oder von den Menschen: die Glatzköpfe zum Beispiel, auch die sind hier versammelt – gucken Sie sich doch mal um – und auch die zu dünnen und die zu dicken, Leute mit zu kurzen Beinen und Leute mit zu langen, die zu alten und die zu jungen, die Perversen ohne Partner und die Impotenten, Leute mit Würgerhänden, die bisher nicht würgen durften, weil ihnen gesagt wurde, sie dürften nur streicheln, auch die Brillenträger sind gekommen und die Brillenträgerinnen, denn >Er< hat gesagt: >Lasset die Kindlein zu mir kommen!< Aber die Kindlein – das sind die Verhinderten! – Ja, so ist das«, sagte Herr von Salzstange, »vor allem die Verhinderten – die, die gerne mal möchten und nicht können.«
Der Roman zeigt recht ausführlich die Geschichte Israels vom UN-Plan der Aufteilung Palästinas 1947 bis zum 6-Tage-Krieg 1967. Breit erzählt Schulz auch die Stationen und Fährnisse seiner Flucht vor der Roten Armee und den Partisanen in Polen. (Hier fließen wohl auch Erfahrungen Hilsenraths ein.) Immer wieder trifft Schulz auf Frauen, lässt sich von ihnen aushalten, auch quälen, immer sind es Monster, seine Frau Mira dicker noch als seine Mutter, Frau Holle mit dem Holzbein oder die polnische “Hexe” Veronja. Am überzeugendsten wird dem Leser, er wird direkt angesprochen, der unaufhaltsame Weg des Jungen Max Schulz von seinen fünf Vätern zum Nazi vorgeführt. Immer derb, immer deftig.
1977 465 Seiten
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dtv-Unterrichtsmodell von Tina Rausch
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