Nachrichten vom Höllenhund


Geiger
6. Februar 2011, 14:46
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter:

Arno Geiger: Alles über Sally

Er, Alfred, scheint überfordert vom Leben, umgibt sich mit Stützstrümpfen und Truhen voller Antiquarien, er möchte nicht mehr erleben, als er in sein Tagebuch schreiben kann. Sie, Sally, ist Lehrerin und die aktive von beiden, die vom Leben mehr erwartet als den Beruf und die Routine und die Sicherheit. Kann das gut gehen? Geiger entwirft die Prüfkonstellation: Einbrecher haben das Haus verwüstet, während Alfred und Sally in Urlaub waren. Wie reagieren sie? Alfred lethargisiert, Sally räumt auf. Es gibt weitere Tests: die Affäre als Klimax, hier doppelt fordernd, weil der Mann der Mann der Freundin ist und weil Sally eine weitere Nebenbuhlerin zugemutet wird.

Ein schlauer Roman, ein kluger, sagen die Rezensenten. Der Titel lässt an ein Sachbuch denken: Alles über Insekten, Alles über die Körpersprache, Alles übers Zusammenleben. Alles über Sally ist ein Roman, doch Arno Geiger steht zu sehr über seinen Figuren, auch wenn er in sie hineinschlüpft. Aus den Selbstanalysen, auch den rhetorischen Fragen spricht immer wieder Geiger. Er spielt, stellt das Personal zum Versuch auf, zeigt mal, wie ihr die Situation bewältigt.

Sie war jetzt zweiundfünfzig, nicht schön, aber auch nicht unattraktiv, ganz normal hübsch, eher sogar ziemlich hübsch. Sie hatte es ganz gut getroffen, sie war noch immer mit einem hohen Maß an erotischer Wahlfreiheit ausgestattet. Aber mit zunehmendem Alter und abnehmender Wahrscheinlichkeit? Wenn solche Ereignisse wie die Affäre mit Erik ihrer Reichweite entrückten? Wenn der Traum von all den Männern, die noch auf sie warteten, fadenscheinig wurde? Was dann? Gab es für das, was dann kam, eine Chance auf Heilung? Wuchs man aus dem Bedürfnis, seinen Wert auf diese Weise zu überprüfen, heraus? Schön wär’s, dachte sie. Denn es war ja genaugenommen ein zwanghafter, reaktionärer Aspekt in ihrer Persönlichkeit, angetrieben von – – von – – von – – Perfektionismus?

Das Handy klingelte, Sally angelte danach, es war Alice, die aus London anrief. Sally rief zurück, damit Alice Ge­bühren sparen konnte. Sally freute sich, von Alice zu hören, sie brauchte jetzt Beziehungen, um all das zu übertünchen.

Und Alfred:

Alfred hatte eine besondere Freude an Kontinuitäten, er mochte es, wenn Dinge eine bestimmte Bedeutung hatten, er fand es verlockend, wenn ihm etwas vertraut war oder zur Gewohnheit wurde; und natürlich kroch das ins Liebesleben. Für das Unerwartete war er überhaupt nicht mehr gerüstet. Sally hingegen jammerte, wenn alles vorhersehbar war und sich Veränderungen Wochen und Monate im Voraus ankündigen mussten, um willkommen zu sein. Diese Art Leben versetzte sie in Panik, jedenfalls von Zeit zu Zeit. Vielleicht hatte sie deshalb im Moment Alfred gegenüber wenig Geduld. Manchmal war sie drauf und dran, ihn zu hassen, aber mit Sicherheit verachtete sie ihn dafür, dass er nicht dynamischer war. Lieber hätte sie nicht auf diese Weise empfunden, aber es gelang ihr nicht, ihren Widerwillen einzudämmen. Sie dachte: Hoffentlich sagt das nicht mehr über mich aus als über ihn.

Hier lässt der Analytiker sprechen und denken. Da Alfred meist zu kurz kommt, kriegt er im vorletzten Kapitel einen langen Monolog, einen inneren, da kann ihm keiner etwas vormachen – auch Geiger nicht. Das ist für mich der überzeugendste und interessanteste Teil des Romans, auch sprachlich gelungen, in der Form aber isoliert.

Oft wirken die Privatanalysen auf mich auch in ihrer Darstellung hölzern.

Seine Züge durchliefen eine Reihe rascher Verwandlungen, von Gereiztheit zu Verdrossenheit zu Qual. Zu viele Dinge, von denen er befürchtete, sie verloren zu haben, drängten sich von den Rändern seiner Ängste ins Zentrum. Er fühlte sich vollkommen einsam, und diese Einsamkeit wurde nicht gelindert, als Sally sagte:
»Jetzt brauche ich einen Kaffee.«

Oder:

In selbstquälerischer Verwunderung knetete Alfred seine Hände. Sally indes hatte Mühe, ihre Erwiderung in einem normalen Tonfall vorzubringen.
»Ich kann die Reise nicht beschleunigen, indem ich auf­höre zu trinken. Ich muss trinken. Du musst auch trinken. Rück deine Pfundmünzen raus, dann bist du sie los.«
»Jetzt soll ich es auch noch finanzieren«, sagte er mür­risch.

Ich hatte den Roman wegen solcher Passagen schon aus der Hand gelegt, wegen vieler positiver Kritiken aber dann doch weitergelesen und das auch nicht bereut, da die Versuchsanordnungen dieser Familienausstellung doch recht originell sind. Und wo darf ein nicht so lebenssüchtiger Mann schon mal auf die Nachsicht des starken Geschlechts hoffen. „Am Ende schaut Sally mit milden Augen auf Alfred, dessen Bein nach einem Knöchelbruch in Gips liegt – immerhin gibt es nun keinen Stützstrumpf mehr. ‚Ihre Zuneigung’, heißt es, ‚nahm zu und wieder ab, das war wohl nichts wirklich Besonderes.’“ (Volker Hage, SPIEGEL). Geiger gestattet sich „ein wärmeres Licht auf die Ehe“ (Daniela Weiland, BR-LeseZeichen)

2010       360 Seiten

3

Alles über Sally auf der Homepage von Arno Geiger

Video-Interview bei LeseZeichen


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