Rolf Dobelli: Massimo Marini
Der Anwalt Wyss (63) besucht wegen einer leichten Depression das Sanatorium Burghölzli, der Therapeut rät, sich schreibend zu entlasten. Wyss schreibt aber nicht über sich selbst, sondern über seinen letzten Mandanten Massimo Marini. Das ist das Konstrukt des Autors: Der Außenstehende kann aus der sicheren Distanz erzählen, er weiß viel, kann manchmal sagen, dass er vieles nicht weiß, erzeugt damit Spannung, baut sie aber schnell wieder ab, weil er als sein Anwalt Massimo Marini nicht nur kennt, sondern auch versteht und deshalb fast selbst zum Therapeuten wird. Es zeigt sich aber, dass die Distanz des Erzählers eben nicht sicher ist, denn er wird zum Teil der Zerstörung Massimo Marinis, zum Teil des Schicksals. „Denn anders als üblich in der Romanliteratur, wo der Erzähler sich von den Ereignissen wegschreibt, schreibt er sich hier zu ihnen hin.“ (Joseph Haniman, SZ) Im Bürocontainer kommt es zur Beichte und zum vorläufigen Showdown.
Die Geschichte liest sich leicht und schnell. Dobelli sagt einem alles. Marinis Eltern sind als Gastarbeiter in den 70er Jahren aus Otranto in Süditalien in die Schweiz gekommen, arbeiten sich ab und passen sich an bis zur Einbürgerungsfeier. Ihren Sohn Massimo, in Italien gezeugt, schmuggeln sie in einer abenteuerlichen Aktion nach und geben ihm ihr Lebensmotto mit auf den Weg: „Man muss sich die Dinge nur ordentlich in den Kopf setzen.“ Als die Überfremdungsinitiative“ abgelehnt wird, können die Eltern Schweizer werden und so auch erfolgreich: gemeinsam tanzen sie zu »Volare, oh oh… Cantare, ohohoho … Nel blu dipinto di blu… Felice di stare lassù… «.
Sohn Massimo aber geht aufs Gymnasium und soll in der Theatergruppe den Woyzeck spielen.
Massimo hatte seine Eltern zur Aufführung eingeladen. Sie waren – nach siebzehn Jahren in der Schweiz – soeben Bürger dieses Landes geworden, und die Freude über die bescheidene, aber herzliche Einbürgerungsfeier in Schlieren (es gab Bratwürste, Bier, Kuchen, eine kleine Schweizerfahne zum Mit-nach-Hause-Nehmen und eine Rede des Gemeindepräsidenten) stand seinem Vater noch ins Gesicht geschrieben.
Noch nie hatte Massimo seine Eltern in die Schule eingeladen. Ihr Deutsch war nicht auf der Höhe, und altertümliches Deutsch, dazu die gekünstelte Sprache der Stückeschreiber – nein, das machte einfach keinen Sinn. Außerdem genierte er sich ein bisschen.
Sie waren vier Jungs italienischer Abstammung in seiner Klasse von zwanzig, und kein anderer hatte je den Mut gehabt, seine ausländischen Eltern in die Nähe der Schule zu bewegen.
Aber nun hatte er sie eingeladen, und sie waren erschienen. Sein Vater Giovanni im besten Anzug, den er besaß, einem massigen, dunkelblauen Doppelreiher, der ihn wie einen drittrangigen Mafioso aussehen ließ, und seine Mutter Giulietta in einem weinroten Zweiteiler mit einer beigefarbenen Bluse, am Hals glänzte eine zweireihige Kette aus Zuchtperlen. Sie waren wie für einen Staatsempfang gerüstet.
Aber was sie zu sehen bekamen, war der reinste Graus. Da stand ihr Sohn in Lumpen auf der Bühne, stammelte, zitterte mit jeder Faser seines Körpers, fraß Erbsen und ließ sich bis an die Grenze des Erträglichen demütigen.
Dem siebzehnjährigen Massimo aber eröffnete sich eine neue Welt. Er kam sich – erbsenspuckend – ein bisschen wie ein Fremdarbeiter vor, wie ein Immigrant, wie all die italienischen Arbeiter, die er von Emmenbrücke und Schlieren her kannte … wie sein Vater. Und er fragte sich, was wohl schlimmer war: von einem Hauptmann gedemütigt zu werden oder von einem Schulbub, der einem »Tschingg« nachrief?
Während der Woyzeck-Aufführung riss sich Massimo zusammen, aber auf einmal wurde ihm klar: Es gibt die Welt der Herrschenden, und es gibt die Welt der Ausgenutzten. Er würde sich nicht, wie seine Eltern es wünschten, auf die Seite der Quäler schlagen, sondern auf die der Gequälten. Er würde gegen die Ungerechtigkeit in der Welt kämpfen – und wenn das bedeutete, dass man dafür mit seinem Leben bezahlte.
Die Souffleuse musste ihm ganze Sätze einflüstern, so sehr ließ er sich wegtragen von der Idee der Gerechtigkeit.
Massimo opponiert, gegen den Vater, der jetzt selbst die Arbeiter ausnutzt, gegen die atomare Rüstung, gegen die Atomkraft. Und Massimo beerbt seinen Vater, setzt sich in dessen Tunnelbohrfirma, wird zum geachteten Unternehmer. Legt sich die adäquate Frau zu, eine Künstlerin, präsentabel, aber prüde, alles gelingt, alles scheitert. „Vom italienischen Immigrantenkind zum Zürcher Gesellschaftslöwen. Vom Opernhausdemonstranten zum Opernhaussponsor. Vom Existenzphilosophen zum Bauunternehmer. Vom Linken zum Rechten. Vom Tiefen zum Hohen. Vom Süden zum Norden.“ (Klappentext) Von “Marina” zu “I shot the Sheriff”. Das Lebensmotto wird mehr als erfüllt und mehr als konterkariert.
Viel, zu viel verarbeitet Dobelli in seinen Roman. Gastarbeiter und Studentenrevolte und Intrigen und Generationenkonflikte und den Bau des Gotthard-Basistunnels und Depressionen nebst Traumata und das Schicksal. Und die Leidenschaft. Dobelli hat alles akribisch recherchiert. Manchmal hätte ich das Buch fast weggelegt, weil die Geste zu pathetisch ist, weil Massimos entführter Sohn an der gleichen Stelle in Rom gefunden werden muss, an der die Roten Brigaden Aldo Moro abgelegt haben. Doch dann war ich mit dem Lesen fertig – und habe es letztlich auch nicht bereut.
2010 375 Seiten
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