Hisham Matar: Im Land der Männer
Suleiman, dummer Bub. Umm Suleiman, die Mutter, wurde als Neunjährige ausgepeitscht, weil sie auf der Straße mit einem Gleichaltrigen sprach, und mit 14 zwangsverheiratet, damit sie sich nicht noch einmal in einem Café mit einem Jungen an einen Tisch setzen konnte. Sie hat sich mit dem ihr verordneten Mann arrangiert, braucht aber, sooft der Mann außer Haus ist, illegal beschafftes „Wasser“, um ihr Schicksal betrauern und ihre Träume vom selbstbestimmten Leben verscheuchen zu können. Bu Suleiman, der „Baba“ ist in dieser Konstellation ein guter Mann, er schlägt Frau und Sohn nicht, hat aber den Fehler, dass er mit der politischen Situation im Libyen zur Zeit der „Umgestaltung“ des Landes durch Gaddafi und seine Anhänger nicht einverstanden ist. Er schreibt in sein Buch „Demokratie jetzt“ und setzt sich damit natürlich der Verfolgung durch den Geheimdienst Mokhabarat aus.
Suleiman ist 9. Er registriert genau, Stimmungen, Tonfälle, Mimik, er nimmt sich und seine Umgebung in der Mulberry Street mit offenen Sinnen wahr, er beschreibt detailliert. Aber er versteht noch nichts. Er mag seinen Baba, aber der ist oft nicht da, er fühlt sich stark seiner Mutter verbunden, vor allem, wenn er völlig durch ihre nächtlichen „Krankheiten“ irritiert ist. Es wächst das konfuse Gefühl, seine Mutter rächen zu müssen, weil sie sein Vater einfach genommen hat. Als die Mutter die Schriften des Vaters verbrennt, damit sie nicht in die Arme des Geheimdienstes fallen, rettet Suleiman die Aufzeichnungen „Demokratie jetzt“ vor dem Feuer, um sie wenig später einem Geheimdienstmann zu präsentieren, der sie aber im Moment nicht beachtet. Suleiman wirft mit Steinen nach seinen Spielkameraden, weil er sich der Freundschaften nicht mehr sicher sein kann, weil sich die politischen Gräben mit Brutalität auch durch die Nachbarschaft ziehen. Er beobachtet in einer Fernsehübertragung, wie ein Bekannter seines Vaters gehängt wird, ihm fehlen aber die Zusammenhänge und ihm fehlen die Personen, mit denen er seine Ängste besprechen können. Er leidet an seinem Verhalten, ist aber zu jung, es zu korrigieren. Die Mutter, selbst erst 24, will beschwichtigen, sie will sich ja auch nur einen Rest des Lebens retten, das ihr als Mädchen weggenommen wurde.
Hisham Matar zeigt, wie sich Terrorregime auf Familien, auf Nachbarschaften, auf Kinder auswirken. Wie ihnen mit der brutalen Gewalt die Lebenserklärungen und –zuversichten entrissen werden. Indem er die Perspektive des begriffsstutzigen neunjährigen Kindes einnimmt, stellt er die bedrückenden Verwirrungen vor mögliche Belehrungen. Libyen und Gaddafi können ersetzt werden, sind aber jetzt am Ende dieses Terrors sehr aktuell.
Man sollte beim Lesen aber auch nicht den Titel des Romans vergessen.
2006 255 Seiten (TaBu)
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