Jonathan Franzen: Freiheit
Mann gegen Frau. Sie können nicht mit- und nicht gegeneinander. Die Rollen sind zu festgeschrieben, Ausbrüche enden in Agonien. Die Kinder erleben’s mit und tappen bei ihrer Abnabelung in die gleichen Fallen. Die „Säfte des Konkurrierens“ sind übermächtig, man muss gegen alle anderen seine Identität durchsetzen und gerät unweigerlich in die Fänge der Aporien. Jüdische Anteile an dieser Gemengelage scheinen die Vehemenz zu steigern. Herauskommen soll dann die Freiheit.
Wenn die Kinder ausziehen, dürfen sie nicht allein bleiben. Im College – es liegt natürlich im Mittleren Westen – verbandelt man sie mit Zimmergenossen, die Konkurrenz erhält neues Personal, der Individualstress nimmt zwanghaft zu, aber man muss Selbst bleiben, weil einen sonst andere überholen. Zu dieser existenzüberfüllenden Arbeit kommen rigide Familien- und Sexualregelungen, die man nicht einhalten muss, auf deren Überschreitung aber weitere Selbstquälung folgt. Die USA, Land of the Free. Freiheit als Zwangsveranstaltung, auszuhalten nur mit und unter Drogen, begleitet von Depressionen.
Dazu kommt das Geld. Viele haben keines oder ihres verloren, die welches haben, wissen nicht, was damit tun, haben Angst, es ihren Kindern, die „wenig schmeichelhaft“ geraten sind, zu vererben und messen sich in ihrer Konkurrenz an fast nichts anderem – außer Sex, aber das ist auch nur ein Rubbellos.
Alle leiden an allen. Patty -„in Pattys Mitte war eine Leere“ -, die eigentlich Protagonistin sein sollte, verschwindet im Geschlingere ihrer Mischpoke; Walter, der endnaiv delirierende Weltverbesserer american style, ist wohl das Walterego des bekennenden Vogelretters Franzen; der in seiner anarchozynischen Attitude sympathische Richard Katz (!) (zumindest solange, bis er sich von Walters missionarischem Geschwurbel über das Aussterben des Pappelwaldsängers und seinem „Kreuzzug gegen die Überbevölkerung“ belullen lässt) ist immerhin Musiker. Tochter Jessica, Randwichtel, wird eingemischt, wenn sie als Statistin für sonst unterbesetzte Gesprächsrunden dienen kann, Sohn Joey kriegt mehr Raum, Scheißkerl sein zu dürfen. Alle zusammen: Borniert in den USA. Und zusätzlich leiden alle an diesen USA. Verständlich.
Jonathan Franzen lässt den Leser am allumfassenden Leid teilhaben. Und zwar ausführlich, 1:1 in Echtzeit. Man muss endlose Telefonate mithören – bei denen fast immer ums Thema herumgeredet wird. Falls es doch einmal persönlich wird, legt dann ein Gesprächspartner auf. Man muss über Hunderte von Seiten Einblick in Pattys therapeutisches Tagebuch nehmen und wird über jedes Basketballspiel und jedes Wehwehchen informiert. Franzen übertreibt es mit der Mitschrift und hängt meist auch noch die Analyse des Gesagten und Gedachten an, meist aus subjektiver Sicht und damit einer eigenen Analyse bedürftig.
Ein Beispiel, beliebig:
«Du kannst uns nicht das Cabrio lassen», sagte Jonathan. «In dem Ding sehen Joey und ich aus wie zwei Schwule.»
Jennas einziger offenkundiger Defekt war ihre Stimme, die gepresst und kleinmädchenhaft klang. «Ja, klar», sagte sie. «Zwei Schwule mit Jeans, die ihnen halb überm Arsch hängen.»
«Ich kapiere einfach nicht, warum du nicht mit dem Cabrio nach New York fahren kannst», sagte Jonathan. «Das hast du doch schon mal gemacht.»
«Weil Mom sagt, das geht nicht. Nicht an einem Feiertagswochenende. Der Land Cruiser ist sicherer. Am Sonntag hast du ihn wieder.»
«Spinnst du? Der Land Cruiser ist eine Überschlagkiste. Total unsicher.»
«Das kannst du ja Mom erzählen. Sag ihr, dein Erstlingsauto ist eine unsichere Überschlagkiste, weshalb ich damit nicht nach New York fahren kann.»
«Hey.» Jonathan wandte sich an Joey. «Willst du übers Wochenende nach New York?»
«Klar!», sagte Joey.
«Nehmt doch einfach das Cabrio», sagte Jenna. «Für drei Tage schadet euch das nicht.»
«Nein, super, wir machen es so», sagte Jonathan. «Wir fahren alle mit dem Land Cruiser nach New York und gehen shoppen. Du kannst mir helfen, eine Hose zu finden, die deinem Standard entspricht.»
«Gründe dafür, dass das ein Blindgänger ist?», sagte Jenna. «Nummer eins, ihr habt nicht mal was zum Übernachten.»
«Warum können wir denn nicht mit dir bei Nick pennen? Der ist doch in Singapur, oder?»
«Nick wird nicht wollen, dass ein Haufen Erstsemester in seiner Wohnung rumtrampelt. Außerdem ist er Samstag vielleicht wieder da.»
«Zwei sind kein Haufen. Es wären nur ich und mein unglaublich ordentlicher Zimmergenosse aus Minnesota.»
«Bin ich wirklich», versicherte Joey ihr.
«Zweifellos», sagte sie null interessiert von ihren Zinnen herab. Gleichwohl schien Joey ihren Widerstand zu komplizieren – einen Fremden konnte sie nicht ganz so abtun wie ihren Bruder.
«Ist mir völlig gleich», sagte sie. «Ich frage Nick. Aber wenn er nein sagt, könnt ihr nicht mit.»
Wenn man solche Banalitäten wegließe, hätte das Buch noch seine 250 Seiten und wäre damit nicht mehr ganz zu lang. Aber auch wenn’s um Belangvolleres geht, um Freiheit und Wahrheit, bleibt das Gespräch im Wichiwaschiton, bestimmt von Zwängen und Hierarchien, abgebrochen, wenn’s interessant werden könnte und in Alkohol ertränkt.
«Unsere modernen Medien sind sehr verschwommene Schatten an der Wand, und der Philosoph muss bereit sein, diese Schatten im Dienste einer höheren Wahrheit zu manipulieren.»
Zwischen Joeys Impuls, Jenna zu beeindrucken, und den Wörtern, die infolgedessen aus ihm herausbrachen, lag nur eine kurze Schrecksekunde des freien Falls. «Aber woher wissen Sie, dass das die Wahrheit ist?», rief er.
Alle Gesichter drehten sich zu ihm hin, und sein Herz fing an zu hämmern.
«Das wissen wir nie mit Gewissheit», sagte Jennas Vater und zog seine Lächelnummer ab. «Da haben Sie völlig recht. Aber wenn wir erkennen, dass unsere Weltsicht, basierend auf Jahrzehnten sorgfältiger empirischer Studien der allerbesten Köpfe, in auffallender Übereinstimmung mit dem induktiven Prinzip der allgemeinen Freiheit des Menschen steht, dann ist das ein gutes Anzeichen dafür, dass wir gedanklich wenigstens annähernd richtig liegen.»[…]
«Jonathan zufolge sind Sie ein sehr guter Student», fuhr der alte Mann freundlich fort. «Ich nehme daher an, Sie haben schon einmal die Erfahrung gemacht, anderer, nicht so aufgeweckter Leute wegen frustriert zu sein. Weil die nicht nur unfähig sind, sondern sich auch dagegen sperren, gewisse Wahrheiten anzuerkennen, deren Logik sich Ihrer Meinung nach von selbst versteht. Ja weil es sie anscheinend gar nicht kümmert, dass ihre Logik schlecht ist. Kennen Sie solche Frustrationen nicht?»
«Aber das kommt doch daher, dass sie frei sind», sagte Joey. «Ist das nicht der Sinn der Freiheit? Dass man das Recht hat zu denken, was man will? Na ja, zugegeben, manchmal geht einem das schon auf den Zeiger.»
Rings um den Tisch wurde darüber gekichert.
«Das ist vollkommen richtig», sagte Jennas Vater. «Freiheit geht einem auf den Zeiger. Und genau deswegen ist es so unabdingbar, die Gelegenheit zu ergreifen, die sich uns in diesem Herbst geboten hat. Wir müssen eine Nation freier Menschen dazu bringen, von ihrer schlechten Logik abzulassen und sich einer besseren anzuschließen, welche Mittel dazu auch nötig sind.»
Außerstande, noch eine einzige Sekunde auf dem Präsentierteller auszuhalten, nickte Joey noch eifriger. «Sie haben recht», sagte er. «Ich seh’s ein, Sie haben recht.»
Jennas Vater erleichterte sich daraufhin von weiteren nicht allzu genau genommenen Fakten und festen Meinungen, von denen Joey kaum noch ein Wort mitbekam. Er bebte am ganzen Körper von der Erregung, vor allen anderen gesprochen zu haben und von Jenna gehört worden zu sein. Das Gefühl, das er den Herbst über verdrängt hatte, das Gefühl, ein Spieler zu sein, kehrte nun zu ihm zurück. Als Jonathan vom Tisch aufstand, erhob er sich unsicher und folgte ihm in die Küche, wo sie genügend unausgetrunkenen Wein zusammentrugen, um zwei Halblitergläser für sich zu füllen.
Man kann sagen, das ist halt so und im nacherzählten Geschwätz liegt die Aufdeckung, aber was soll damit Amerika, der Welt und mir gezeigt werden ,das die Langeweile beim Lesen kompensieren sollte. Franzen merkt es selbst:
Das klang alles wie ausgemachter Unsinn, noch während er es sagte, […] dessen Belanglosigkeit ihn so nervös machte, dass er ihm kaum folgen konnte.
Das klang alles völlig falsch. In dem Bemühen, etwas Eingrenzendes, Spezifisches zum Problem der Weltbevölkerung zu sagen, hatte er es geschafft, sich so anzuhören, als sagte er etwas Umfassendes über sie beide. Hatte den Eindruck erweckt, als schlösse er eine weitergehende Möglichkeit aus, die auszuschließen er da noch gar nicht bereit war, auch wenn er wusste, dass es diese Möglichkeit eigentlich nicht gab.
Die Kapitelüberschrift „Es reicht“ kommt erst auf Seite 450 – viel zu spät!
Ursula März schreibt in der ZEIT, „die tiefere Botschaft, die Jonathan Franzen in „Freiheit„ anstrebt, die er im letzten Romandrittel narrativ geradezu erzwingt, diese Botschaft läuft auf den Idealismus nationaler Bekehrung und Selbstreinigung hinaus, der 2008 mit Barack Obama Gestalt annahm. Franzens neuer Roman ist, auf den kürzesten Nenner gebracht, das literarische Fegefeuer der Bush-Ära. Er leuchtet sämtliche Scheußlichkeiten aus, die sich im Tunnel der Jahre 2001 bis 2004 zutrugen, und geht dann dazu über, das Licht am Ende zu feiern.“
Da stimmt vieles nicht. Franzen leuchtet nicht sämtliche Scheußlichkeiten aus, er führt manche Personen vor, die sich als Scheißkerle verhalten; zu den Scheußlichkeiten der neoliberalen Wirtschaft dringt er nicht vor. Diese Scheußlichkeiten haben sich nicht von 2001 bis 2004 zugetragen, die „Bush-Ära“ ist keine anweichende Formation der US-Gesellschaft. Es hat sich nichts geändert, auch kaum unter Obama, kein Grund für ein „Licht am Ende“, Franzens Happy End ist versöhnlerisch.
Iris Radisch findet das Buch – ich habe mitgeschrieben – „verklemmt, verquasselt, streberhaft, unsympathisch, unendlich langweilig“. Man werde „zugemüllt mit einem vollkommen banalen Alltagsgequassel“. Das ist vielleicht zu deftig. Aber „Freiheit” geht einem auf den Zeiger.
2010 730 Seiten
Kulturzeit-Gespräch mit Andreas Isenschmid
Jonathan Franzen im – inhaltsleeren – Gespräch mit Dennis Scheck
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