Nachrichten vom Höllenhund


Ani
22. Mai 2011, 12:33
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Friedrich Ani: Süden

Die Vermissungen der Welt.

 6 Jahre war der Süden weg. Hatte München verlassen, wollte nie wiederkommen, wollte wie einer von denen sein, die Süden aufspüren musste, obwohl er ihnen das  Abhauen zugestand. Da sich Anis Süden-Romane aber gut verkauf(t)en, sollte er wieder her, in seine Stadt. Der Grund ist schnell gefunden, aber doch recht herbeigezogen: Südens Vater hat angerufen, ganz kurz nur, Süden hat ihn seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen, die Spuren zeigen nach München. Da er nicht mehr bei der Polizei ist, heuert er bei einer Detektei an. Und sucht – seinen Vater und andere Vermisste. Das ist auch Anis Metier: „So beschäftige ich mich fast ausschließlich mit Verschwundenen und Vermissten und der Suche nach ihnen.“

Rätsel sind die Koordinaten des Lebens. Das hatte Süden oft gesagt, wenn er am Schreibtisch saß und das Zerrbild einer menschlichen Existenz bewunderte, das eine Handvoll oder hundert Zeugen durch ihre Aussagen, Beteuerungen, Lügen und Aufschreie angefertigt hatten, mit der ganzen Inbrunst, zu der sie fähig waren, in der Überzeugung, eine einzigartige Wahrheit zu vermitteln.
Aus der Sicht der Zeugen mochte das sogar stimmen, aus der Sicht von Süden spielten die Beweise fast keine Rolle, sie dienten vor allem einer protokollarischen Ordnung, sie füllten die Akte, die am Ende geschlossen werden konnte, sie verliehen der Tätigkeit aller Beteiligten einen angenehmen Sinn. Zur Aufklärung der Rätsel trugen sie nichts bei, sie verschönten sie manchmal eher.
Der bei seinem Verschwinden dreiundfünfzig Jahre alte Gastronom Raimund Zacherl, genannt Mundl, hatte dreiunddreißigmal versucht, eine Frau namens Ricarda Bleibe, genannt Carla, anzurufen, die eine Zeitlang in seinem Lokal als Bedienung gearbeitet hatte.
Niemand wusste von diesen Anrufen, nicht einmal seine Frau. Er führte die Gespräche von einem geheimen Telefon aus, und er war nie zurückgerufen worden. Ricarda Bleibe war eine der Frauen, von der die Bierkutscher im Schlegel-Stüberl gesprochen hatten, der Koch Karl Schwaiger und die Zeitungsausträgerin und Einsiedlerin Liliane-Marie Janfeld.

Tabor Süden übernimmt, zäh, stur, bedächtig, er kann schweigen, bis die anderen reden. Er braucht kein Handy, auch das zeigt Charakter. Süden durchstreift München auf den verwehten Spuren von Mundl Zacherl, die ihn später auf Sylt führen, ein anderes Lokalkolorit. Das Nachspüren ist Ziel, nicht das Auffinden. Süden hat vielviel Verständnis für seine Vermissten, er fühlt sich in sie hinein, ist ihnen ähnlich. Er modelliert am eigenen Leben, indem er fremdes rekonstruiert.

Wenn Süden einmal angefangen hatte zu schweigen, hörte er so schnell nicht wieder damit auf.“ Südens lakonische Art ist zwar vielmehr ein Charakterzug als eine Befragungsstrategie, doch sein Schweigen bringt Menschen immer wieder zum Sprechen. Manche reden sich um Kopf und Kragen, wenn sie dem kleinen, kräftigen Süden gegenübersitzen.

Wie eine Witwe war sie schwarz gekleidet – schwarzer Rock, schwarze Bluse -, ihr Blick wirkte müde und resigniert. In ihren ergrauten dunklen Haaren steckte eine rote Spange. Sie hatte ein schmales, schönes Gesicht, es war ungeschminkt und grau. Zwischen den Sätzen malte sie manchmal mit dem Zeigefinger Kreise auf der weißen Tischdecke. Sie saßen am Fenster, durch das kaum Licht hereinfiel. Die drei Fenster waren klein und quadratisch, verdeckt von Gar­dinen. Auf jeder Fensterbank stand eine weiße Vase ohne Blu­men.
Das Restaurant mit der niedrigen Holzdecke und den dunkel getäfelten Wänden hatte zwölf Tische, an denen jeweils sechs Gäste Platz fanden. Auf den Tischen standen weiße Kerzen, an der Wand gegenüber den Fenstern hing eine schwarze Tafel, auf der mit Kreide die Namen der Gerichte geschrieben und drei davon durchgestrichen waren. Von seinem Platz aus konnte Süden die Schrift nicht entziffern. Aus der Küche hinter dem Tresen war kein Laut zu hören. Die Eingangstür war abgesperrt, die Luft im Raum kühl und abge­standen. Süden hatte ein Halbliterglas Mineralwasser vor sich stehen.
»Eine Erleichterung«, wiederholte er. »Weshalb sind Sie er­leichtert, Frau Zacherl?«
»Bitte?«
»Beschreiben Sie Ihre Erleichterung.«
»Bitte?« Sie warf ihm einen ratlosen Blick zu. Er wartete, und sie setzte zweimal an, bevor sie ein Wort herausbrachte. »Dass Frau Liebergesell nicht aufgibt, deswegen … Ich bin doch nicht erleichtert, weil … Was denken Sie denn von mir?«
Sie griff nach dem Blatt Papier neben ihrer Tasse, überflog die Zeilen, legte es hin und schob es von sich weg. Es war die Bestätigung von Edith Liebergesell, dass Tabor Süden in ih­rem Auftrag handelte. Solange er noch keine Visitenkarten besitze, hatte sie ihm erklärt, solle er diese Form der Legitima­tion benutzen.
»Was ist denn los mit Ihnen?«, sagte Ilona Zacherl. »Haben Sie was gegen mich? Wieso lassen Sie mich dermaßen auflaufen? Wo haben Sie Ihren Job gelernt? Oder sind Sie ein arbeitsloser Polizist? So einen hatte die Frau Liebergesell schon mal, vor zwei Jahren. Der hat gedacht, er ist was Besonderes. Der wollt mich einschüchtern, das schafft niemand. Das hat er dann einsehen müssen. Später hat Frau Liebergesell sich von ihm getrennt, wahrscheinlich verhielt er sich nicht nur mir gegen­über unmöglich.«
»Niemand verschwindet ohne Grund«, sagte Süden. »Und in der Akte steht kein einziger.«
»Weil’s keinen gibt«, sagte sie lauter als bisher.
»Das glaube ich nicht.«

Die Wirtin ertrug sein ständiges Schweigen nicht.

Die Suche zieht sich in Südens Methode, Südens Ermittlungen „mäandern“, „Wahrheiten kommen ans Licht, aber unendlich mühsam und schmerzlich, auf gewundenen Wegen.“ (Christoph Haas, SZ). Dadurch wird aber die Figur Mundl Zacherl zum Träger von zu viel Sinn, wird tiefer, undurchschaubarer, eigener, zu menschlich, je länger er verschwunden bleibt. Das wird mir zu viel, ich halte es mit Mundl kaum aus, will, dass er sich entdecken lässt, dass alles ein Ende hat. Auch das Ende lädt Ani zu mysteriös auf. Da geht es nicht mehr ohne verwunschene Wälder, versteckte Hütten, das ewige Rauschen der Meereswellen. So viele Beladungen hat der vereinsamt suchende und fliehende Säufer Zacherl nicht verdient.

Schade auch, dass sich manche Personen im Roman verlieren, weil sie nur als Zweckfiguren eingesetzt werden. Der zwölfjährige Benedikt etwa, dessen alleinerziehende Mutter tagelang nicht nach Hause kommt, eine Vermisste auch sie, vertraut sich Süden an. Süden – und Ani – brauchen ihn aber dann nicht mehr. Auch der Anruf von Südens vermeintlichem Vater erweist sich als Finte, verwischt und liefert Spuren.

Dennoch kein Krimi der üblichen Sorte, keine Waffen, kaum Aktion, der Ermittler ist den Beteiligten und auch dem Leser kaum voraus. Die Sprache sucht nach Tiefe und Bedeutung, manchmal ein bisschen zu viel Pathos, aber meistens glaubhaft und existenziell.

2011       365 Seiten

Georg Patzer auf der Crimi-Couch

  Leseprobe beim Droemer Verlag

2-3


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