Nachrichten vom Höllenhund


Späte Nachbarn
1. Juni 2011, 18:07
Filed under: Theater

Späte Nachbarn

nach den Erzählungen „Späte Liebe“ und „Scéance“ von Isaac B. Singer

Harry Bendiner ist reich geworden in Amerika, – „es hatte sich so ergeben, dass seine drei Frauen ihm alles hinterlassen hatten” -, aber auch alt. „Nun, das ist nicht mehr meine Welt. Wenn man erst mal über achtzig ist, ist man schon so gut wie eine Leiche.” Er lebt in einem Eigentumsappartement im elften Stock (im Theater haben sie es gottseidank in den siebten verlegt) in Miami Beach. “Dies war kein Wohn­haus mehr, sondern ein Krankenhaus. Leute star­ben, und er erfuhr es erst Wochen oder Monate spä­ter. Obwohl er einer der ersten Bewohner gewesen war, kannte er kaum jemanden. Er ging auch nicht in den Swimmingpool und spielte nicht Karten. Frauen und Männer grüßten ihn im Lift und im Supermarkt, aber er wusste nicht, wer sie waren.”

Er sagt, er gehe jeden zweiten Tag ein oder zwei Stunden ins Büro der Maklerfirma Merrill Lynch, “wo er die Kurse der New Yorker Börse vor­beiflimmern sah” und kaufe sich im Supermarkt „Milch, Hüttenkäse, Obst, Büchsen­gemüse und Hackfleisch […], gelegentlich auch Pil­ze, ein Glas Borschtsch oder gefilten Fisch”. Aber sein Kühlschrank auf der Bühne ist bis auf ein paar Flaschen Milch leer. “Kürzlich hatte er sich ein Fern­sehgerät angeschafft, aber er benutzte es selten” – mit den Augen vor dem Bildschirm lässt er sich von Tom und Jerry beflimmern – belanglos und doch der theatralisch passende Kommentar zu den USA.

Harry Bendiner ist prachtlos einsam, und das ist menschlich, aber sehr traurig. „Es wäre auch unvernünftig, in seinem Alter nochmals zu heiraten. Jüngere Frauen ver­langten Sex, und an einer alten Frau war er nicht im Geringsten interessiert. Da er nun einmal so ver­anlagt war, war er dazu verurteilt, alleine zu leben und alleine zu sterben.”

“Dieser Sommertag begann wie jeder andere.” Aber dann taucht die Frau auf. »Ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt. Ich bin Ihre Nachbarin zur Linken. Ich wollte mich Ihnen vor­stellen. Ich heiße Ethel Brokeles. Ein komischer Name, nicht wahr? Das war der Name meines ver­storbenen Mannes. Mein Mädchenname ist Gold­mann. «

»Hören Sie schon auf, von Ihrem Alter zu re­den!«, schalt ihn die Frau. »Wissen Sie was? Kom­men Sie zu mir, und wir essen zusammen. Ich esse nicht gerne allein. Für mich ist allein essen noch schlimmer als allein schlafen.«
»Wirklich, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wo­mit habe ich das verdient?«
»Schon gut; reden Sie keinen Unsinn. Wir sind in Amerika, nicht in Polen. Mein Eisschrank ist vollgepackt mit Leckereien. Ich werfe mehr weg, als ich esse, Gott möge es mir verzeihen.« Die Frau be­nutzte jiddische Ausdrücke, die Harry über sechzig Jahre nicht mehr gehört hatte.”

Auf der Bühne schläft und schnarcht Harry Bendiner in seinem Bett. Man sieht den Kühlschrank und die Türen zu Bad und Balkon. Mählich schleppt er sich in den Tag und beginnt, Cornflakes mümmelnd, zu erzählen. Er trägt den Text von Singers Kurzgeschichte vor, in der 3. Person. Man fragt sich, ob man die Worte dramatisch bebildern muss, Harry ist allein auf der Bühne, es gibt keinen Ansprechpartner, das Publikum darf ja nicht mitspielen. Und tut es doch. “Sie nahm ihn beim Arm und führte ihn zur Tür. Er brauchte nur ein paar Schritte zu gehen. In der Zeit, in der er seine Tür zuschloss, hatte sie die ihre geöffnet.” 3 Sätze, knapp, beiläufig. André Jung nimmt vier “Anläufe”, seine Wohnung zu verlassen. Er will nicht zu ihr, er weiß, was passieren kann, trotz seiner Senilität, er sträubt sich. Ein ganz kurzer hilfeheischender Blick ins Publikum, hier gehe ich, ich kann nicht anders. Und doch hebt er zu einem Freudensprung ab, ganz im Wissen seiner Gebrechlichkeit, hat sogar noch “schnell” sein Hawaiihemd angezogen: schön ist die Jugendzeit. Die Bühnenarbeiter nehmen “in der Zeit, in der er seine Tür zuschloss”, die Verkleidung von ihrem Appartement, und es entpuppt sich als Parallelwelt zu seiner. In Rosa natürlich. Mit der gleichen Cornflakes-Packung. Süß.

Barbara Nüsse ist die Frau, agil, aufdringlich, ihre Unsicherheit überspielend mit ihrer Karikatur einer amerikanischen Hausfrau. Das Stück ist aber das von André Jung. Ausgestopft, sabbernd, unsicher im Schritt, mümmelnd, souverän zögernd beim Erzählen und souverän sicher in jeder Geste, jedem Geschau. Man weiß, dass er die Mühen des Alters, die Einsamkeit, den plötzlichen Einbruch des Gefühls nur spielt, aber man leidet, freut sich, trauert trotzdem mit. Leiser Slapstick stört da nicht. Singers Geschichte und die Inszenierung Alvis Hermanis’ ergänzen sich, durch das Komödiantische der Vorführung erscheint das Leben noch trauriger.

Auch im zweiten Stück, “Scéance”, treffen sich amerikanisierte Juden, Überlebende, denen der Holocaust die Jugend und die LebensSicherheiten genommen hat. Barbara Nüsse wird zur dicken Schamanin, André Jung ist der heruntergekommene Gelehrte Dr. Kalisher, der ihre Kekse knabbert und sich dafür ihre naiven Zeichnungen, ihr telepathisches Tamtam und andere Schrullen über sich ergehen lässt, sich dabei ohne Unterlass schwadronierend rechtfertigt und seine “kongenialen” Theorien ausbreitet. Das Stück ist erfreulich kürzer, setzt stärker auf Klamauk und lebt auch von der liebe-vollen Bühnendekoration.

 Kammerspiele München       Aufführung am 27. Mai 2011

 


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