Philip Roth: Nemesis
Sportlehrer Eugene „Bucky“ Cantor beaufsichtigt im Ferien-Sommer 1944 die Jungs und Mädchen auf dem Sportplatz der Schule von Newark. Er ist mit sich im Reinen, den Kindern Sport, Fairness und Verantwortungsgefühl beizubringen, ist das Schönste, was er sich vorstellen kann. Er hat eine Braut gefunden, Marcia, die Tochter des geachteten Arztes Dr. Steinberg.
Bucky Cantor wollte sich als Freiwilliger in den Krieg melden, seine Pflicht fürs Vaterland leisten, wurde aber wegen seiner Sehschwäche nicht berücksichtigt. Er ist nicht direkt „ein reflektierender Mensch“, „er wollte alles respektieren“, „Extravaganzen waren ihm so fremd“. Von den Kindern wird Mr. Cantor geliebt und als Vorbild geachtet.
In diese – fast zu heile – Welt bricht die Katastrophe ein. Eine Polioepidemie breitet sich aus, Mr. Cantors Schulbezirk, das bessere Wohnviertel Weequahic, wird am stärksten heimgesucht. Einige Schüler sterben, keiner kennt die Ursachen und Übertragungswege, die Leute werden hysterisch. (Das ist durchaus heute nicht anders.) Auch Bucky Cantor ist in seinem Verstehen ge- und überfordert. Aber hat sein Pflichtgefühl: „Auch dies war ein Krieg (…), ein Krieg, in dem er kämpfen konnte.“ Doch er scheitert, muss scheitern, weil sich der Gegner nicht stellt, weil ihm niemand die Seuche erklären kann, weil er sie in seine Gedanken nicht einordnen kann, weil die Situation keine richtige Handlungsalternative kennt. Bleibt Gott, doch der rührt sich nicht.
Du hast ein Gewissen, und ein Gewissen ist etwas Wunderbares – allerdings nur, solange es nicht anfängt, dich für etwas verantwortlich zu machen, das außerhalb deines Verantwortungsbereiches liegt.
Er wollte fragen: Hat Gott kein Gewissen? Wo ist Seine Verantwortung? Oder kennt Er keine Grenzen?
Cantor lässt sich von Marcia überreden, seinen Posten aufzugeben und eine Aufgabe in einem Feriencamp zu übernehmen, dort, abseits der verseuchten Stadt, weiter mit Kindern zu arbeiten und gleichzeitig bei seiner Braut zu sein. Er sieht dies als Pflichtverletzung, weiß sich aber keinen Ausweg. Da gibt es plötzlich auch im Ferienlager „Indian Hill“ (!) einen Poliofall.
Er konnte nicht akzeptieren, dass die Polioepidemie in Weequahic und Camp Indian Hill eine Tragödie war. Die Tragödie muss in Schuld verwandelt werden. Es muss eine Notwendigkeit geben für das, was geschieht. Eine Epidemie bricht aus, und er sucht nach dem Grund. Er muss fragen: Warum? Warum? Dass das Ganze sinnlos, zufällig, absurd und tragisch ist, stellt ihn nicht zufrieden. Auch nicht, dass die Ursache ein sich stark ausbreitendes Virus ist. Er forscht verzweifelt nach einem tieferen Grund, dieser Märtyrer, die Suche nach dem Warum wird zur Manie, und er findet es entweder bei Gott oder in sich selbst oder – mysteriös und mystisch – in der schrecklichen Vereinigung dieser beiden zu einem einzigen Zerstörer.
„Nemesis“ ist eher Novelle als Roman, mit Symbolen überfüttert. Der Sommer ist „keine Zeit der Sorglosigkeit“ mehr, in die „Frische eines Julimorgens“ explodiert das Schicksal. Jeder ist ihm ausgesetzt, Kinder bevorzugt, jüdische Kinder, während in Europa die Juden ausgerottet werden, die Frage nach Gerechtigkeit hat keine Antwort. Der tötenden Hitze des Stadttages steht die Reinheit der Nacht in der Natur gegenüber. Eine „Indianernacht“ feiern die Kinder im Camp, die Gemeinschaft aller Amerikaner inclusive der Indianer und der Juden: „God Bless America“. Mr. Cantor verbringt eine Liebesnacht mit Marcia auf einer kleinen idyllischen Insel als Fluchtort. Und auch die verbotene Frucht fehlt nicht: „Mr. Cantor wählte einen makellosen Pfirsich, so groß wie das Prachtexemplar, das Dr. Steinberg genommen hatte, und in Gesellschaft dieses durch und durch vernünftigen, beruhigenden Mannes und in dem herrlichen Gefühl der Sicherheit, das er verströmte, aß er den Pfirsich und genoss jeden köstlichen Bissen.“
Erzähler ist einer von Mr. Cantors Jungen: „Ich, Arno Mesnikoff“. In diesem knappen Einschub erfährt man das im ersten Kapitel, im dritten Kapitel mischt sich dieser Erzähler als Romanfigur ein. Er trifft den „unrettbar verlorenen“ Mr. Cantor nach Jahren wieder, beide haben ihre Kinderlähmung überstanden, wenn auch mit schlimmen Folgen. Der Erzähler bietet dem Leser eine Analyse des Scheiterns von Bucky Cantor:
Er wurde von einem übersteigerten Pflichtgefühl getrieben, besaß aber zu wenig geistige Statur, und dafür hatte er einen hohen Preis bezahlt, indem er seiner Geschichte eine durch und durch düstere, strafende Bedeutung verliehen hatte, die im Lauf der Zeit immer größer geworden war und sein Unglück verschlimmert hatte. Das Wüten der Epidemie auf dem Sportplatz und im Sommercamp erschien ihm nicht wie ein böser Streich der Natur, sondern wie ein großes, von ihm selbst verübtes Verbrechen, das ihm alles genommen und sein Leben zerstört hatte. Das Schuldgefühl, das jemand wie Bucky empfindet, mag absurd erscheinen, ist in Wirklichkeit aber unvermeidlich.
Das ist ein Kunstgriff von Philip Roth, der aber die Grenzen des Romans überschreitet, weil er die Hauptfigur von außen und von oben herab analysieren lässt. Bucky Cantor ist in seiner glatten, naiven moralischen Perfektion ein Langweiler, er nervt beim Lesen, auch wenn sich sein Ende dann als so tragisch erweist. Er trägt das Schicksal nicht, der Sportlehrer erreicht nur als Turmspringer die Fallhöhe, überangepasst übernimmt er sich beim Versuch, die Welt zu retten. Die ersten beiden Kapitel leben vom Kontrast des lieblichen American Dreamboys und der unerklärbaren Seuche, das eigentlich missglückte dritte Kapitel wird erfüllt vom Mitleid mit dem unbelehrbaren jüdischen Mann, „auf den Verlass war“. Roth erzählt schnörkellos.
2010 220 Seiten
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Rezensionsüberblick beim Perlentaucher
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