Boualem Sansal: Harraga
Lamia arbeitet als Kinderärztin in einem trostlosen Krankenhaus in Algier. Die Abende verbringt sie allein in ihrem alten Haus und hängt längst verblassten Erinnerungen nach. Von ihrer Familie ist nur ihr Bruder Sofiane geblieben, doch dessen Spur verliert sich auf dem Weg ins Gelobte Land Europa.
Alles ändert sich mit dem Tag, an dem Chérifa vor der Tür steht: 16 Jahre alt, schwanger, ohne Zuhause.
Lamia ist entsetzt- Chérifa schert sich einen Teufel darum, was ein junges Mädchen in der arabischen Welt tun darf oder besser bleiben lässt. (Klappentext)
Sansal erzählt auch von diesen zwei Frauen, aber eigentlich geht es ihm um das Land, die Gesellschaft in Algerien, im islamischen Nordafrika. Er lässt seine Heldin Lamia erzählen, aber er steht als Autor immer dahinter, weiß mehr als die Hauptperson. Er bettet die eher reduzierte Handlung ein in die Geschichte, die Gegenwart, er erzählt von Filmen, die sein Thema behandeln, er greift aus. Lamia macht sich immer wieder bemerkbar, überträgt die Reflektionen auf ihr Schicksal als gescheite Frau in einer blockierten Gesellschaft, bringt die Gefühle ein. Dazu ist Chérifa willkommen, als Lolita-Mädchen steht sie vor der Tür, wirbelt ihre Umgebung auf, ist aber den größten Teil des Romans nicht da, Lamia sucht sie fast die ganze Zeit. Chérifa ist die junge Lamia, doch die Hoffnung ist trügerisch. Chérifa, die Junge, ist kulturlos, geschichtslos, nur an sich und daran interessiert, einfach so zu leben. Lamias Erziehungsversuche prallen gnadenlos ab.
Wir irrten traurig und mit gesenktem Kopf umher, durch die Jahrhunderte und die Zivilisationen, ohne dass etwas unsere Aufmerksamkeit geweckt hätte, uns dazu gebracht hätte, die entscheidende Frage zu stellen: „Was macht das bei uns?“ Die Räume waren menschenleer, sie erzählten von der Leere, die prägt, von der Abwesenheit der Seele, von der Verbannung. Die Gemälde, die Statuen, die Kunstgegenstände, die Steine, die Grafiken sahen aus wie alter Kram, arrangiert von vagen Gerichtsschreibern, die von der Routine ganz erschöpft waren. Das Schöne ist nur dann schön, wenn man es weiß. Wir sind daran vorbeigegangen, und haben uns draußen wieder gefunden, in der Sonne, elend, geblendet, erschöpft, enttäuscht.
All das ist eine andere Welt für Chérifa, eine unbekannte, künstliche Welt, zusammengetragen auf den Flohmärkten der vergangenen Jahrhunderte und Jahrtausende. Sie betrachtete sie mit den Augen einer Eule, die von einem Riesenkrach aufgeschreckt wurde. Ich hätte mir gewünscht, dass sie das versteht, wir stammen nicht aus Aladins Wunderlampe oder einem Zauberkunststück im Labor, sondern aus diesem Flohmarkt, aber es gibt keine Worte, die die Grenzen des Geistes durchdringen. Chérifa muss viel sehen, um vorwärts zu kommen, und das kann ich nicht an ihrer Stelle tun. Jetzt muss ihr Karma sprechen. (…)
Ich spürte, dass Chérifa sich von mir entfernt hatte. Sie sah mich an, als sei ich eine Fremde oder eine Verwandte, bei der man nebenbei eine perverse Neigung entdeckt. In diesem Moment begriff ich, was es bedeutet, zu verzweifeln.
Die Kultur ist das Heil, aber auch das, was am tiefsten trennt.
Das Leben ist kolonisiert von Tradition, Religion, Regime, aber auch von der Stadt, dem Haus, belebt auch sie und erdrückend, der Nachbarschaft, der Familie, den Männern, indirekt, aber noch immer wirksam, von Besatzern und Eroberern, alle gespenstergleich. Das lastet auf der Frau. Lamia reflektiert, sie vermisst das Leben als Frau, lotet ihre Möglichkeiten aus, sie sieht sich von allem überfordert, sie bleibt realistisch und damit einsam. Trotzdem erlaubt sie sich, zornig zu sein.
Ich weiß es, aber die Sache schockiert, das Bild verstärkt die Worte, die afrikanische Gesellschaft ist jämmerlich zersplittert, und sie ist es seit Menschengedenken gewesen. Es gibt die Welt der Frauen, errichtet auf der Zurückgezogenheit und der unendlichen Geduld, die der Männer, in der sich alles um das Überleben dreht, die der Jugendlichen, die auf dem Traum vom Verheißenen Land basiert, und die der Notabeln, die dem Raub gewidmet ist. Diese Welten begegnen einander nie. Von Demokratie in unseren Ländern zu sprechen bedeutet, von legendären Dingen zu sprechen, unsere Hexenmeister sind weit davon entfernt, eine solche Maschine zu ersinnen.
Der Roman ist – auch – die Geschichte vom Weglaufen, vom Alles-hinter-sich-lassen, Harraga, das Verbrennen der Straße, das Abbrechen aller Brücken hinter sich. Auch Chérifa verbrennt sich auf ihrer Flucht, auch sie findet kein Ziel.
Dieses Land wird von Menschen ohne Seele regiert, sie haben uns zu Wesen nach ihrem Bild gemacht, klein, boshaft und gierig, oder zu Aufständischen, die sich in Scham und Bedeutungslosigkeit zusammenkauern. Unsere Kinder leiden, sie träumen vom Guten, von Liebe und von Spielen, sie werden ins Böse, den Hass und das Nichtstun geführt. Sie haben nur dieses Mittel um zu leben, Harragas zu werden, die Straße zu verbrennen, wie man früher seine Boote verbrannte, um nicht zurück zu müssen.
Das Leben lässt im Grunde wenig Auswahl, fortgehen, bleiben, vergessen, wiederkäuen. Das ist nicht lustig. Man würde gerne phantasieren, das Unmögliche versuchen, den Teufel am Schwanz ziehen, ein Luftschloss beziehen, die Sterne vom Himmel holen, eine neue Religion gründen, die Massen befreien, sich in einen Schmetterling verwandeln, sich als Harlekin verkleiden, zu den Sternen eilen, was weiß ich.
Wie lang sind die Tage und wie schwierig ist der Traum. Man verliert so viele Dinge im Laufe eines Lebens. Und schließlich ist man allein, mit seinen zerfetzten Erinnerungen, den im Naphthalin vergessenen Kleidern, den liebgewordenen Gegenständen, die nichts erzählen, mit den Wörtern, die außer Gebrauch gekommen sind, den Daten, die dumm am Kleiderhaken der Zeit hängen, den Gespenstern, die die Schatten durcheinander bringen, mit zweifelhaften Anhaltspunkten, mit fernen Geschichten. Man ersetzt die Dinge so gut man kann, man umgibt sich mit neuem Krempel, aber das Herz ist nicht bei der Sache, und das bisschen Leben, was uns bleibt, leidet unter den Folgen.
Na, was ist denn los, meine Liebe, sind wir mal wieder am Quatschen, verderben wir uns den Kopf, wollen wir sterben? Nein, ich bin jung, ich bin eine Kämpferin, ich habe die Kontrolle, ich werde mich fangen!
Ich habe ein Bad genommen, habe mich hübsch gemacht und mir eine Kanne Tee gekocht.
Morgen ist ein neuer Tag, das Leben wird mir zulächeln.
Sansal erzählt belehrend phantastisch, abschweifend und engagiert, stilistisch einnehmend. Vieles wäre zu zitieren. Er bürdet der Geschichte der zwei Frauen viel auf, vor allem Chérifa geht dabei fast verloren. „Postmoderne aus Algerien“ nennt es DeutschlandRadio Kultur. „Er benutzt Sprache in jeder Form: Lyrik, die an Paul Celan erinnert, Poesie wie aus „1001 Nacht“, Umgangssprache und Comic-Lautmalerei, Slapstick, intertextuelle Literaturverweise und auch das Fernsehprogramm. Das ist Literatur, die einen schwindlig macht, – ein unglaublicher Genuss. Sansals Sprache erinnert an die der großen Südamerikaner, besonders an die des „magischen Realismus“ von Gabriel García Márquez.“
2005 280 Seiten
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Boualem Sansal erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2011
Homepage von Boualem Sansal beim Verlag
Leseprobe beim Übersetzer Riek Walther
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