Stefanie Sourlier: Das weiße Meer
(Erzählungen)
Das Leben – kein Roman. Soweit tragen die flatterhaften Erzählungen nicht. Das Leben bietet keine Kontinuitäten, keine Sicherheiten, keine verlässlichen Beziehungen. Man trifft sich, macht diffuse Pläne, die man so schnell vergisst wie die Namen der verhuschenden Partner. Gespräche werden meist in der Kneipe geführt, damit sie unverbindlich bleiben, damit man sie schnell abbrechen kann. Es scheint Leute zu geben, die Wohnungen haben, andere leben in Hinterzimmern oder zur „Untermiete“, dauernd auf dem Sprung. Da einen nichts dort hält, wo man ist, kann man genauso gut woanders sein, in Manchester oder New York oder in einem Bergdorf oder Archangelsk, am Weißen Meer. Das Weiße Meer aber ist Sperrgebiet. Man kommt nicht an, auch nicht „Nach Italien“.
Ich habe deine Nummer gelöscht, sagte Leo. Sie sagte nicht: versehentlich. Ich überlegte, dass ich darauf etwas sagen sollte, doch mir fiel nichts ein. Hast du was zu trinken da, sagte Leo anstelle einer Erklärung, und ich meinte: Apfelsaft gibt es, vielleicht auch Bier, und sie sagte: Apfelsaft und öffnete den Kühlschrank. Sie goss den Rest der Flasche in ein Glas und trank es in einem Zug leer. So, sagte sie und stellte das Glas hin. Was ist eigentlich mit Archangelsk? fragte sie dann. Was soll mit Archangelsk sein, sagte ich leicht trotzig, keine Ahnung, wie Archangelsk ist. Tja, wir können ja mal hinfahren, meinte Leo, schauen, wie es da ist. […] Leo sieht aus wie ein verkleideter Junge auf dem Foto. Sie sieht aus wie mein Bruder, als er noch jünger war und schmal wie ein Mädchen.
Auch die Zeit verfließt: „Morgen ist schon wieder heute“ nennt Sourlier eine Geschichte. Daneben wird aber erzählt von Familie, von Brüdern, Großvätern, Onkel Georg, auch hier sind die Beziehungen fragil, die Sehnsucht nach Sicherheit, auch Geborgenheit und Rückhalt scheint aber durch. Diese Geschichten vom Früher, das gerade endet, werden eingeflochten, angedeutet, falls man einen Zuhörer findet, aber keinen, der zu ernste, zu definierte Absichten haben wird.
Paul sitzt mir gegenüber und starrt an mir vorbei in das Blau des Schwimmbeckens. Er ist ganz blass, seine Haut sieht aus wie durchsichtiges Papier und wahrscheinlich fühlt sie sich auch so an, glatt und kühl. Aber das weiß ich nicht, ich habe meinen Bruder nie berührt, seit Jahren habe ich ihn weder umarmt noch geküsst oder auch nur seine kalte trockene Hand gehalten. Ich weiß nicht einmal, ob seine Hand kalt und trocken ist, ich kann es mir nur vorstellen.
„Dass die Allgegenwart des Todes […] nie impertinent wirkt, ist sensationell und hängt mit der Gelassenheit der Ich-Erzählerin zusammen.“ (Judith von Sternburg, FR) Und Tobias Becker (SPIEGEL): „Sourlier erwähnt den Tod beiläufig, in einem unaufgeregten Ton, wie im Dämmerzustand.“ Falls das Leben heute so ist, wie es Stefanie Sourlier skizziert, kann es keine Romane mehr geben. Dafür sind die „Schicksale“ zu inkonstant, zu kurzlebig, zu bodenlos. Solche Erzählungen sind nicht neu. Stefanie Sourlier verwebt sie noch etwas stärker, was sie einander ähnlicher werden lässt. Vielleicht sind sie auch noch fragiler als anderswo. Aber: „Worüber sollen wir weinen.“
2011 170 Seiten
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