Irène Némirovsky: Suite française
Irène Némirovsky denkt bei ihrem Roman über Menschen in Zeiten des Krieges an Tolstoi. „Um es gut zu machen, müssten 5 Teile geschrieben werden“, steht in ihren Notizen: „1. Sturm 2. Dolce 3. Gefangenschaft 4. Schlachten? 5. Der Frieden?“ Es sollte eine „Suite française“ werden, „wie bei der Musik, wo man manchmal das Orchester, manchmal nur die Geige hört“. Es geht ihr um Rhythmus, der „in den Massenbewegungen liegen“ soll, aber in „dieser großen Schachpartie“ soll der „Kampf zwischen dem individuellen Schicksal und dem Gemeinschaftsschicksal“ erkennbar werden. „Zwischen alledem muß Luciles Liebe zu Jean-Marie durchscheinen.
Das Wichtigste und Interessanteste ist hier folgendes: Die historischen, revolutionären usw. Tatsachen müssen gestreift werden, während der Alltag, das Gefühlsleben und vor allem dessen Komödie vertieft wird.” “Nötig sind Menschen, menschliche Reaktionen, das ist alles …”
Irène Némirovsky konnte nur die ersten beiden Teile schreiben. Sie wurde im Juli 1942, neununddreißigjährig, nach Auschwitz gebracht und ermordet. Eine kurze Biographie ihres Lebens findet man bei Wikipedia. Wikipedia bietet auch eine ausführliche Inhaltsangabe verbunden mit einer Charakterisierung der Personen.
Der erste Teil: „Sturm im Juni“ zeigt verschiedene Gruppen der Pariser Bevölkerung bei ihrer Flucht vor den Deutschen, die im Juni 1941 Paris einnehmen. Meist sind es Bessergestellte, Adlige, Intellektuelle, Unternehmer, Künstler, deren Hohlheit Irène Némirovsky an ihrem Verhalten in der Notsituation entlarven will. Sie wollen auch im Straßengraben und unter Brücken nicht auf ihre Bediensteten und ihr Porzellan verzichten. „Wenn ich etwas auffallendes schreiben will, dann werde ich nicht das Elend zeigen, sondern den neben ihm bestehenden Wohlstand.“
Der zweite Teil, „Dolce“ – Sanftmut, fragt nach den Möglichkeiten von Menschlichkeit, von Liebe in den Zeiten des Völkerhasses. Die deutschen Soldaten, die in die Häuser eines französischen Dorfes einquartiert sind, stellt Irène Némirovsky als außergewöhnlich liebenswürdig dar. Metallisch blond grenzen sie sich nicht nur damit, sondern auch in ihrer Bildung, in ihrer Galanterie, in ihrer „Redlichkeit“ von den dumpfen, ungewaschenen, bäuerlichen Franzosen ab – allen voran der betörende Leutnant Bruno von Frank, der ins Haus der Angelliers gezogen ist. (Ist das auch ein Grund, weshalb der Roman vom deutschen Feuilleton überschwänglich gelobt wurde?) Mutter Angelliers hasst die Deutschen aus Prinzip und weil sie ihren Sohn Jean-Claude verhaftet haben, die nicht standesgemäße Schwiegertochter Lucile verrät ihre Ehre, weil sie sich mit dem Leutnant unterhält.
Hinter Madame Angellier kam Lucile. Sie war in letzter Zeit kälter, zerstreuter und widerspenstiger als gewöhnlich. Schweigend senkte sie die Stirn, wenn sie den Deutschen verließ, der zwar auch nichts sagte, ihr aber im Glauben, nicht gesehen zu werden, lange nachblickte. Doch Madame Angellier schien Augen im Rücken zu haben. Ohne den Kopf zu wenden, flüsterte sie Lucile zornig zu: «Achten Sie nicht auf ihn. Er ist immer noch da.» Sie atmete erst wieder auf, wenn die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, und dann durchbohrte sie ihre Schwiegertochter mit einem tödlichen Blick: «Sie sind heute nicht so frisiert wie sonst … », oder: «Sie haben Ihr neues Kleid angezogen? Es steht Ihnen nicht.»
Doch ungeachtet des Hasses, den sie bisweilen gegen Lucile hegte, nur weil sie da war und ihr Sohn abwesend, ungeachtet all dessen, was sie hätte erraten, ahnen können, meinte sie nicht, daß es zwischen ihrer Schwiegertochter und dem Deutschen zärtliche Gefühle geben könnte. Schließlich beurteilt jeder die Welt nur nach dem eigenen Herzen. Nur der Geizige sieht den Eigennutz, nur der Lüstling die Begehrlichkeit der Menschen. Für Madame Angellier war ein Deutscher kein Mann, sondern die Verkörperung der Grausamkeit, der Perversität und des Hasses. Daß andere sich ein abweichendes Urteil bilden könnten, war ausgeschlossen, unwahrscheinlich … Sie konnte sich eine in einen Deutschen verliebte Lucile ebensowenig vorstellen wie die Paarung einer Frau mit einem Fabelwesen wie dem Einhorn oder dem Drachen. Auch der Deutsche schien ihr nicht in Lucile verliebt zu sein, denn sie sprach ihm jedes menschliche Gefühl ab. Sie meinte, daß er mit seinen Blicken eher diese von ihm geschändete französische Wohnung beleidigen wollte, daß er ein unbändiges Vergnügen daran fand, die Mutter und die Frau eines französischen Gefangenen ihm ausgeliefert zu sehen. Was sie Luciles «Gleichgültigkeit» nannte, erzürnte sie über die Maßen: Am liebsten hätte sie Luciles Gesicht mit einer Maske verhüllt und sie in einen Sack gekleidet. Sie litt darunter, sie schön und gesund zu sehen. Ihr Herz blutete: <Während mein Sohn, mein eigener Sohn …>
Lucile und der Leutnant:
«Ich denke … daß das Individuum nicht auf diese Art geopfert werden dürfte. Ich spreche für uns alle. Man hat uns alles genommen! Liebe, Familie … Es ist zuviel! »
«Ach, Madame, das ist das größte Problem unserer Zeit: Individuum oder Gemeinschaft, denn der Krieg ist ja das Gemeinschaftswerk schlechthin, nicht wahr? Wir Deutschen glauben an den Geist der Gemeinschaft, so wie man sagt, bei den Bienen herrsche der Geist des Bienenstocks. Ihm verdanken wir alles: Saft, Glanz, Duft, Liebe … Aber das sind recht ernste Betrachtungen. Hören Sie, ich werde Ihnen eine Sonate von Scarlatti spielen. Kennen Sie sie?»
«Nein, ich glaube nicht, nein! »
Sie dachte:
Das ist nicht so schnulzig, wie es sich vielleicht anhört. Das Thema Kollaboration, der politische Hintergrund des Vichy-Regimes klingt immer mit. Irène Némirovsky schreibt ihren Roman „zeitnah“, sie weiß, was gerade geschieht, nicht, was kommt. Sie sieht neben dem nationalen Gegensatz auch den sozialen, der das Leben vieler Menschen unmittelbarer bestimmt. Sie will die Möglichkeit, Mensch zu bleiben, retten. Auch deshalb die Ausbruchsphantasien, auch und gerade der Frauen (horizontale Kollaboration). Auch deshalb die breite Aufmerksamkeit für die Natur, die Blumen, die Tiere, das Leben. Die beiden vorliegenden Teile sind nicht so innig verflochten, wie sich Némirovsky das vorgestellt hat.
Kein Buch über den Zweiten Weltkrieg, aber vielschichtiges „Sittengemälde aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs“ (Klappentext)
Geschrieben 1941, veröffentlicht 2004 445 Seiten + Anhang + Nachwort
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Andere Romane zur deutschen Besetzung Frankreichs und zur Kollaboration:
Vercors: Das Schweigen des Meeres – Ein deutscher Offizier wird bei einem alten Mann und seiner Nichte einquartiert. Der Offizier versucht sich mit den beiden über die Situation zu unterhalten, doch Mann und Mädchen schweigen – wie das Meer. Der Offizier reflektiert das gespenstische Gegenüber. Eindringlich.
Michael Wallner: April in Paris – Ein junger SS-Soldat verliebt sich in eine Französin und bildet sich ein, die Liebe könne den Krieg zur Nebensache machen, er könne sich als „deserteur amoureux“ der Geschichte entziehen. Lesenswert.
Robert Hültner: Der Hüter der köstlichen Dinge – Hültner erzählt die Geschichte eines bayerischen Soldaten im Vichy-Frankreich Anfang der vierziger Jahre, der die Aktionen der Partisanen ausspionieren soll. Doch dann lernt er in den Menschen des Midi seinesgleichen, „Hüter der köstlichen Dinge“, kennen. Lesenswert.
Dominique Manotti zeigt in ihrem knallharten Roman Das schwarze Korps den zunehmenden Verfall der Sitten und der Menschlichkeit in den letzten Wochen der deutschen Besatzung von Paris. Im Mittelpunkt stehen nicht die Pariser Bürger, sondern die Nazis und deren Kollaborateure, die unter dem Schein von penetranter Ordnung eine Welt von Gewalt, Eigensucht und moralischer Skrupellosigkeit betreiben.
Auch in Alex Capus‚ Roman Léon und Louise verbringen die Protagonisten einen Teil ihres schicksalhaft getrennten Lebenswegs im besetzten Paris und arrangieren sich mit den Einschränkungen.
Patrick Modiano schreibt gegen das Vergessen und sucht die verblassten „Abdrücke“ des jüdischen Mädchens Dora Bruder in den Stadtlandschaften von Paris und in seiner eigenen Lebensgeschichte.
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