Nachrichten vom Höllenhund


Capus
13. September 2011, 10:31
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter:

Alex Capus: Léon und Louise

Der Erzähler ist der Enkel von Léon Le Gall. Und es bleibt ein Roman, auch wenn Alex Capus hier die Geschichte seines eigenen Großvaters aufgreift. Vielleicht ist auch das ein Grund, dass das Porträt so liebe- und verständnisvoll ausfällt.

Der Roman beginnt mit dem Begräbnis des Großvaters, erzählt wird sonst aber chronologisch und konventionell. Léon Le Gall ist ein netter junger Mann, aus dem eigentlich nichts geworden ist, weil er lieber am Rand des Meeres spazieren geht, als sich in der Schule der trockenen Theorie zu widmen. Er findet allerlei Treibgut und fischt auf einer seiner Radtouren auch ein Mädchen auf, Louise Janvier. Louise ist frech, kokett, selbstbewusst, unabhängig. Und das will sie auch bleiben.

 Oft war Leon nahe daran, den Wirt des Commerce oder des­sen Tochter nach einem Mädchen mit rotweiß gepunkteter Bluse zu fragen; er tat es aber nicht, weil er wusste, dass es in kleinen Orten zu nichts Gutem führt, wenn ein fremder Mann sich nach einem einheimischen Mädchen erkundigt. Eines Abends aber, als Leon gerade bezahlt hatte, ging schwungvoll die Tür auf, und herein kam leichten, schnel­len Schrittes das Mädchen mit der rotweiß gepunkteten Bluse, nur dass sie diesmal keine Bluse, sondern einen blauen Pullover trug. Sie warf in vollem Lauf mit wohl­dosiertem Schwung die Tür hinter sich zu, ging zielstrebig zum Tresen und grüßte unterwegs die Stammgäste links und rechts. Nur eine Armlänge von Leon entfernt blieb sie stehen und bestellte beim Wirt zwei Schachteln Turmac­Zigaretten. Während er die Zigaretten aus dem Regal nahm, kramte sie Münzen hervor und legte sie in die Geldschale, dann räusperte sie sich und strich sich mit den Fingerspit­zen der rechten Hand eine Strähne hinters Ohr, die dort aber nicht bleiben wollte und sofort wieder nach vorne schnellte.
»Bonsoir, Mademoiselle«, sagte Leon.
Sie wandte sich nach ihm um, als bemerke sie ihn erst jetzt. Leon schaute ihr in die Augen, und in der ersten Sekunde schien ihm, als erkenne er in der Tiefe ihres grünen Augen­grunds die Ahnung einer großen Freundschaft. »Dich kenne ich«, sagte sie, »aber woher?« Ihre Stimme war noch bezaubernder, als Leon sie in Erinnerung gehabt hatte.
»Von der Landstraße«, sagte er. »Sie haben mich auf dem Fahrrad überholt. Zweimal.«
» Ach ja.« Sie lachte. »Ist eine Weile her, nicht?«
»Fünf Wochen und drei Tage.«
»Ich erinnere mich, du sahst müde aus. Hattest komisches Zeug hinten aufs Rad gebunden.«
»Einen Kanister Petroleum und ein Fensterkreuz«, sagte er. »Und eine Mistgabel ohne Stiel.«
»Sowas schleppst du mit dir rum?«
»Manchmal finde ich sowas, dann schleppe ich es mit mir rum. Übrigens bin ich froh, dass es Ihrem rechten Auge besser geht. «
»Was ist mit meinem rechten Auge?«
»Das war damals ziemlich rot. Vielleicht war eine Mücke hineingeflogen oder eine Fliege. «
Das Mädchen lachte. »Ein Maikäfer war’s, groß wie ein Hühnerei. Daran erinnerst du dich?«
» Und Ihr Fahrrad hat gequietscht. «
»Das quietscht immer noch«, sagte sie und steckte sich eine Zigarette an, die sie zwischen Daumen und Zeigefinger hielt wie ein Straßenjunge. »Und du? Stehst dir hier jeden Abend die Beine in den Bauch?« Oh, dachte Leon. Das Mädchen weiß, dass ich hier jeden Abend rumstehe. Oh, oh. Das bedeutet doch wohl, dass es meine Existenz bereits zur Kenntnis genommen hat, und zwar verschiedentlich. Oh, oh, oh. Und jetzt kommt es her und lügt und tut, als ob es mich nicht wiedererkennen würde. Oh, oh, oh, oh.
»So ist es, Mademoiselle. Sie finden mich hier, wann im­mer Sie wollen.«
»Wieso?«
»Weil ich nicht weiß, wo ich mir sonst die Beine in den Bauch stehen soll.«
»Ein großer Bursche wie du? Sonderbar«, sagte sie, ver­staute die Zigarettenschachteln in der Tasche und wandte sich zum Gehen. »Ich habe immer gedacht, Eisenbahner seien regsame Leute, vielleicht sogar mit Fernweh. Da habe ich mich wohl getäuscht.«
»Ich wollte gerade gehen«, sagte er. »Darf ich Sie ein Stück begleiten? «
»Wohin denn?«
»Wohin Sie wollen.«
»Lieber nicht. Mein Heimweg führt durch eine dunkle Gasse. Dort würdest du mir womöglich etwas über Ge­schwisterseelen erzählen. Oder versuchen, mir die Zukunft aus der Hand zu lesen. «
Und weg war sie.

Léon und Louise verlieben sich, werden aber durch die Wirren der Zeitläufte getrennt. Beide stürzen in den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs jeweils für sich in einen Bombentrichter, überleben gerade noch und werden nach Paris verschlagen. Es wäre ein Wunder, wenn sie sich dort nicht über den Weg gelaufen wären, doch Léon ist inzwischen verheiratet und Louise ist so generös, sich nicht – oder kaum – in diese Beziehung einzumischen. Aber sie lieben sich doch. 1940 besetzen deutsche Truppen Paris und Louise muss mit den Goldschätzen der Bank, bei der sie arbeitet, nach Afrika fliehen. Sie schreibt Léon lange Briefe.

 Léon empfand es als Ironie des Schicksals, dass in jedem Weltkrieg, den er erlebte, dasselbe Mädchen vor seinen Augen spurlos verschwinden musste.

Léon richtet es sich in seiner Arbeit und in seiner Familie ein, beides ohne Begeisterung, doch zu antriebslos, um Widerstand oder Neubeginn zu wagen. Die Familie dümpelt während der Besatzungszeit dahin, es kommen fünf Kinder und es kommt nach dem Krieg auch Louise wieder aus Afrika zurück.

 Ob diese schwere Zeit Yvonne und Leon noch enger zusammenschweißte, weil sie einander jeden Tag aufs Neue ihre Treue und Verlässlichkeit bewiesen, oder ob ihnen unter der steten Bedrohung noch die letzte Hoffnung auf romantische Liebe abhandenkam, weil sie ganz pragmatisch als Kampfgemeinschaft zu funktionieren hatten – ob sie einander unter diesen Umständen also nähergekommen sind oder nicht, ist schwer zu sagen; man kann sich vorstellen, dass sie sich diese Frage gar nie stellten. Denn von Bedeutung war nicht das Etikett oder die Überschrift ihres Zusammenseins, sondern das tägliche Überleben; und jenseits aller Metaphysik hatte schlicht die Zeit gewisse Fakten geschaffen, die stärker ins Gewicht fielen als alle Worte.
So war es eine Tatsache, dass sie beide nun über vierzig Jahre alt waren und mit einiger Wahrscheinlichkeit die Lebensmitte überschritten hatten. Eine arithmetische Tatsache war es auch, dass sie von ihrem bisherigen Leben die Hälfte miteinander verbracht und bald mehr Nächte miteinander im gemeinsamen Ehebett als ohneeinander geschlafen haben würden. Absehbar war weiter, dass ihre Kinder in überraschend kurzer Zeit halbwegs erwachsen sein und als lebende Beweise dafür in die Welt hinausgehen würden, dass Yvonne und Leon ganz ordentliche Eltern gewesen waren. Bald würden die Tage, die ihnen auf Erden noch blieben, immer rascher verrinnen, und bald würde die Summe ihrer gemeinsamen Erinnerungen so groß sein, dass sie in jedem Fall tröstlicher war als jede Hoffnung auf ein wie auch immer geartetes Leben ohneeinander. Wohl konnte es noch aus diesem oder jenem Anlass ge­schehen, dass eines Tages sie vor ihm Reißaus nahm oder er vor ihr. Ein neuer Anfang aber, ein neues Leben würde das nicht sein, sondern nur die Fortsetzung ihres bisherigen Le­bens unter neuen Bedingungen. Es gab kein zweites Leben, sie hatten nur dieses eine. Das mochte auf den ersten Blick niederschmetternd erscheinen, auf den zweiten aber war es der größtmögliche Trost; denn es bedeutete, dass ihr bisheriges Leben nicht gleichgültig, sondern unabdingbare Voraussetzung gewesen war für alles, was noch kommen würde.

Eine Liebesgeschichte fern von- und mit nur verhalten eingestandener Sehnsucht nacheinander. Die Geschichte rüttelt mächtig an den Schicksalen, sie ist aber nicht alleiniger Grund für die Melancholie. Dennoch zeigt der Roman auch das Leben unter deutscher Besatzung, die auch hier – wie bei Irène Némirovsky – als unerwartet verhalten beschrieben wird. Beide, Léon und Louise, sind so unprätentiös liebreizend, dass man „sich heimlich wünscht, dass einem im nächsten Leben einer wie Léon begegnen möge. Oder eine wie Louise“ (Christine Westermann, WDR) Capus’ Stil wirkt zuweilen ein wenig altväterlich heimelig, aber letztlich passt das zu dieser rührenden Geschichte.

 »Dann lass uns gehen, es ist endlich Zeit. «
Sie gingen an Bord, verstauten die Vorräte in der Kabine und starteten den Motor. Dann machten sie die Leinen los, legten ab und fuhren aus dem Hafenbecken hinaus auf die Seine und flussabwärts, dem Ozean entgegen.

2011         315 Seiten

Videos, Lese-und Hörprobe beim Hanser Verlag

 Video von BR-Lesezeichen

+2

 

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