Nachrichten vom Höllenhund


Bergmann
1. Oktober 2011, 11:08
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter: ,

Michel Bergmann: Die Teilacher

Teilacher sind Handelsvertreter, die von Tür zu Tür ziehen, um ihre Waren, im Roman speziell Wäschepakete, anzubieten und – auch mit Chuzpe und kleinen Tricks – zu verkaufen. Michel Bergmann erzählt eine berührende, melancholische Geschichte über eine Gruppe dieser Teilacher. Sie haben ihre Launen und Lieben, versuchen ihr Leben wieder zu ordnen, trinken und lachen, der Humor ist oft gallig, als displaced persons bilden sie eine verschworene Gemeinschaft und begegnen so einer schwierigen Zeit. Es sind die Jahre vor Gründung der Bundesrepublik, in Frankfurt haben die Amerikaner das Sagen, die Menschen klammern sich an das Nötigste und schon gleich die Teilacher, denn sie sind Juden, die KZ, Exil oder Versteck überlebt haben und dennoch nach dem Krieg wieder nach Deutschland gekommen sind.

Der alte Fajnbrot erklärt, weshalb sie nicht ausgewandert sind: „Zuerst hat man gemusst überleben. Es hat einem keiner nicht was geschenkt. Man gemusst arbeiten, kaufen, verkaufen, machen und tun. So wurde man Teilacher und hat sich getroffen mit anderen Teilachern und alle haben gehabt das gleiche Schicksal. So war es. Man hat kennengelernt a Frau, hat bekommen Kinder. Wie das so ist. Und dann ist man ja geblieben.“

Politik wurde “nur am Rande beachtet” und hatte “so gut wie keinen Stellenwert” Für die Teilacher “existierte Deutschland nicht, und die Deutschen waren fremde Wesen. Und was mit ih­nen geschah, in Berlin oder sonst wo, war nicht von Belang. Die Juden lebten in einem exterritorialen Gebiet, in dem es Amis gab, eine mehr oder weniger lästige Administration und Kunden, denen man Wäschepakete andrehen konnte. Nur in ganz bestimmten Momenten, wenn sie persönlich betroffen waren, kamen die Juden aus ihrem Schneckenhaus.

 Und so eine dramatische Episode begann, als Fajnbrot plötzlich käseweiß ins Büro gestürmt kam, sich kaum auf den Beinen halten konnte, um atemlos zu berichten:
Ihr kennt das Wasserbüdchen Ecke Wittelsbacher Allee?
Ja.
Nu, was glaubt ihr, wen ich da gesehen habe?
Keine Ahnung. Mussolini? Erzähl endlich!
Ich gehe hin dort, um mir zu kaufen Zigaretten, und wem sehe ich, steht da drin?
Na?
Na?

Alfred Kleeberg erzählt von der Beerdigung seines Onkels David 1972 – d.h., David ist gar nicht sein Onkel, sondern der Liebhaber seiner Mutter – und fängt an, die Erinnerungen zu ordnen. Er trifft sich mit den verbliebenen Teilachern beim Leichenschmaus und lauscht ihren Erzählungen. Dabei wird nicht nur getrauert, sondern auch viel gelacht.

 Verzeihen Sie, aber da fällt mir eine Geschichte ein: Ein alter Jude liegt im Sterben und verlangt nach dem Pfarrer. Die Familie ist entsetzt. Aber der Alte will keinen Rabbiner sehen, sondern einen katholischen Priester, denn er hat vor, auf dem Sterbebett zu konvertieren. Die Familie ist außer sich.
Du warst doch immer ein guter, gläubiger Jude gewesen, sagen sie, warum willst du jetzt übertreten? Da sagt der Alte verschmitzt: Es ist doch besser, ein goj stirbt, als ein jid!
Else lächelte. Sie hatte verstanden. Das war für sie auch typisch jüdisch. Immer wurden Wahrheiten in Form von Witzen und Anekdoten weitergegeben. Das gefiel ihr. Ja, sie würde Jüdin werden wollen.

Der geschichtliche Hintergrund verzeiht manche Rührseligkeit des Geschehens, denn das heimelige Glück relativiert sich durch das, was die Personen erlebt haben. Bergmann greift wohl auf die Familiengeschichte zurück und setzt sein Personal in die knapp skizzierten historischen Zusammenhänge. Die Gespräche jiddeln, die Wörter erklären sich selbst.

2010         285 Seiten

Im September 2011 erschien „Machloikes“, die Fortsetzung der „Teilacher“.

Webseite von Michel Bergmann mit Leseprobe, Fotos, Lesevideo, u.a.m.

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