Michel Houellebecq: Karte und Gebiet
Jed Martin hat Kunst studiert, Künstler geworden ist er aber eher zufällig. Er produziert beharrlich, gönnt seinem Werk indes große Pausen, in denen er sich zurückzieht vom Kunstmarkt und auch von der Welt. Vorangestellt ist ein Zitat eines Herzogs von Orléans: „Die Welt ist meiner überdrüssig,/ Und ich bin es ihrer gleichermaßen.“
In seiner ersten „Periode“ fotografiert er Michelin-Karten und findet in den inszenierten Reproduktionen größere Schönheit und Welthaltigkeit als im „Gebiet“ selbst. In seiner mittleren Schaffenszeit wird er mit seinen Porträts weltbekannt und Millionär. Er malt jetzt Leute aus Berufen, welche die Welt anfangs des 21. Jahrhunderst repräsentieren, vom Metzger bis zu Steve Jobs und Bill Gates. Allein sein Werk „Jeff Koons und Damien Hurst teilen den Kunstmarkt unter sich auf“ hält er für misslungen und vernichtet es. Mit seinem Reichtum kann er wenig anfangen, es geht ihm ähnlich wie einer weiteren Romanfigur, einem gefeierten Schriftsteller namens „Michel Houllebecq“, ausgewiesen durch Romane wie „Elementarteilchen“, ein Flüchtling vor dem Talmi des Ruhms auch er. Houllebecq schreibt für Martin das Vorwort zum Ausstellungskatalog, Martin bedankt sich mit einem Porträt, beide scheinen sich zu verstehen.
Jed Martin bildet die Vergänglichkeit von Welt und Mensch ab, er dokumentiert seine Zeit, spiegelt Existenz und noch mehr deren Verfall. Nachdem er sich mit seinem Geld in ein Anwesen in der französischen Provinz zurückgezogen hat, arrangiert er dort seine Fotos und videografiert deren Überwucherung und Auflösung. „Die Vegetation trägt den endgültigen Sieg davon.“ Der letzte Satz des Romans.
Martin ist Nihilist und deshalb einsam. Er durchschaut die moderne Oberflächlichkeit, auch und gerade im Kunstmarkt, er misstraut deshalb Beziehungen. Die Welt ist kalt, die Dinge des Lebens geben einen kargen Rahmen, auch wenn sie heute Produktnamen haben.
Der Kühlschrank war leer bis auf eine Schachtel Pralinen von Debauve & Gallais und einen angebrochenen Karton Orangensaft von Leader Price. Als Jed den Blick durch die Küche schweifen ließ, entdeckte er eine Kaffeemaschine und bereitete sich einen Nespresso zu. Olga war sanft und zärtlich, Olga liebte ihn, sagte er sich mehrmals mit zunehmender Trauer, und zugleich wurde ihm klar, dass ihre Beziehung ein für alle Mal zu Ende war; das Leben bietet einem manchmal eine Chance, sagte er sich, aber wenn man zu feige oder zu unentschlossen ist, um sie zu ergreifen, nimmt es einem den Trumpf wieder aus der Hand. Es gibt einen geeigneten Moment, um Dinge zu tun und sich dem möglichen Glück zu stellen, dabei kann es sich um einen Zeitraum von ein paar Tagen, ein paar Wochen oder sogar ein paar Monaten handeln, aber diese Chance bietet sich nur ein einziges Mal, und wenn man sie später erneut zu ergreifen versucht, ist das schlichtweg unmöglich, es ist kein Raum mehr da für Begeisterung, für Überzeugung, für Glauben, es bleibt nur sanfte Resignation, gegenseitige Betroffenheit und das nutzlose, wenn auch berechtigte Gefühl zurück, dass irgendetwas hätte geschehen können, man sich aber des Geschenks, das einem gemacht worden ist, unwürdig gezeigt hat. Er bereitete sich einen zweiten Kaffee zu, der die letzten Nebelschwaden des Schlafes endgültig verscheuchte, und schickte sich an, Olga eine Nachricht zu hinterlassen. »Wir müssen nachdenken«, schrieb er, ehe er die Worte durchstrich und notierte: »Du verdienst einen Besseren als mich.« Dann strich er auch diesen Satz durch und schrieb stattdessen: »Mein Vater liegt im Sterben«, doch dann wurde ihm klar, dass er Olga nie von seinem Vater erzählt hatte, und er zerknüllte das Blatt, ehe er es in den Papierkorb warf.
Houellebecqs Roman ist auf der Höhe der Zeit. In eine durchaus konventionelle Erzählung, die im dritten Teil zum Krimi mutiert, sind eingebettet Verhandlungen über die Möglichkeiten und Bedrängnisse von Kunst und Literatur und Architektur, Konzeptionen des Bauhaus und Gegenentwürfe, Arten, vom Leben zum Tod zu kommen, die Liebe (kaum Sex, der spielt schon keine Rolle mehr), das Leben, die Arbeit, das Wohnen, den Konsum, das Alter, Frankreichs Provinz, die Dominanz der Finanzen. Und mehr. Houellebecq wertet nicht, schreibt distanziert, zurückhaltend, „altersmilde“ (Iris Radisch), man kann das auf seine Person oder sein Leben projizieren. Die Kombination von Welt und Diskurs ist endlich einmal gelungen.
Jed war zwar nicht sehr jung, im Grunde genommen war er es nie gewesen, aber er war ein relativ unerfahrener Mann. Was Menschen betraf, kannte er nur seinen Vater, und auch den nicht sehr gut. Dieser Umgang konnte ihm nicht zu großem Optimismus verhelfen, was zwischenmenschliche Beziehungen anging. Er hatte bisher nur beobachten können, dass sich das Dasein der Menschen um die Arbeit drehte, die den größten Teil ihres Lebens in Anspruch nahm und in Organisationen unterschiedlicher Größe verrichtet wurde. Nach den Jahren der Arbeit begann eine kürzere Zeit, die durch das Auftreten verschiedener Pathologien gekennzeichnet war. Manche Menschen versuchten sich während der aktivsten Zeit ihres Lebens zu Mikrogruppierungen namens Familien zusammenzuschließen, die die Reproduktion der Gattung zum Ziel hatten; aber diese Versuche schlugen meist aus Gründen fehl, die mit dem »Wesen der Zeiten« zu tun hatte, sagte er sich vage und trank einen Espresso mit seiner Geliebten (sie waren allein an der Theke der Segafredo-Bar, und überhaupt war im Flughafen nur wenig los, das unvermeidliche Stimmengewirr versank in einer Stille, die untrennbar mit diesem Ort verbunden zu sein schien, wie in manchen Privatkliniken). Doch das war eine Illusion, das allgemeine Transportsystem der Menschen, das aktuell eine sehr große Rolle bei der Erfüllung individueller Schicksale spielte, legte nur eine kurze Pause ein, ehe mit den Sommerferien wieder eine neue Sequenz maximaler Auslastung beginnen würde. Dennoch war es verlockend, darin eine Huldigung, eine diskrete Huldigung der sozialen Maschinerie an die so schnell unterbrochene Liebe der beiden zu sehen.
„Houellebecq trifft seine Leser an einer völlig unerwarteten Stelle. Er hat einen tiefgründigen und wissenden Künstlerroman geschrieben, voll postmodernem Ernst. Es ist wie bei einem makellosen Gemälde. Je genauer man hinsieht, desto vieldeutiger und widersprüchlicher werden die scheinbar mühelos decodierbaren Details.“ (Helmut Böttiger, SZ)
2010 415 Seiten
Lange Leseprobe beim Dumont-Verlag
Druckfrisch-Interview mit Michel Houellebecq
Rezensionen und Debattenbeiträge: Links bei single-generation.de
![]() 1-2 |
![]() |
Kommentar verfassen so far
Hinterlasse einen Kommentar