Nachrichten vom Höllenhund


Barnes
8. November 2011, 19:16
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Julian Barnes: The Sense of an Ending

Tony Webster ist im Ruhestand, findet aber keine Ruhe, weil ihn seine Jugend nicht loslässt. Er hat Zeit zu sinnieren, ob er alles oder überhaupt etwas richtig gemacht hat in seinem Leben. Dazu kommen die Zweifel, ob Erinnerung verlässlich sein kann, nicht nur in der Geschichtsschreibung, sondern auch die der eigenen Biografie.

 The history that happens underneath our noses ought to be the clearest, and yet it’s the most deliquescent. We live in time, it bounds us and defines us, and time is supposed to measure history, isn’t it? But if we can’t understand time, can’t grasp its mysteries of pace and progress, what chance do we have with history – even our own small, personal, largely undocumented piece of it?

Julian Barnes breitet sein Lieblingsthema aus: Warum verlief mein Leben so, was habe ich, was haben andere dazu beigetragen. Kann man Geschehenes ausblenden? Hätte es Möglichkeiten gegeben, eine andere „Abzweigung“ zu wählen? Verläuft Geschichte chronologisch oder gibt es die Schubumkehr, wie Barnes mit dem schönen Bild der „Severn Bore“ andeutet, der Gezeitenwelle, die den Fluss von hinten her aufrollt.

How often do we tell our own life story? How often do we adjust, embellish, make sly cuts? And the longer life goes on, the fewer are those around to challenge our account, to remind us that our life is not our life, merely the story we have told about our life. Told to others, but – mainly – to ourselves“

Tony Webster hält sich für einen mittelmäßigen Menschen, er kann seine Geschichte aber noch nicht beenden, denn es gibt Adrian und es gibt Veronica. Adrian war sein Jugendfreund, ein „Überflieger“, das Zentrum der Jugendfreunde. Genau dieser Adrian aber beginnt ein Verhältnis mit Tonys spröder, aber mysteriöser Jugendfreundin Veronica, hat sogar – wie man spät erfährt – ein Kind mit ihr (?), bringt aber doch keinen Sinn in sein Leben und bringt sich um. Hat Tony was damit zu tun? Denn er hat Veronica und Adrian einen bitterbösen Brief geschrieben, da er seine, Tonys, Niederlage nicht anders verwinden konnte. Tony arbeitet sich ab an Adrian und Veronica. „Tony was and is Tony, a man who found comfort in his own doggedness.” (Verbissenheit)

 Not just pure, but also applied intelligence. I found myself comparing my life against Adrian’s. The ability to see and examine himself; the ability to make moral deci­sions and act on them; the mental and physical courage of his suicide. `He took his own life‘ is the phrase; but Adrian also took charge of his own life, he took command of it, he took it in his hands – and then out of them. How few of us – we that remain – can say that we have done the same? We muddle along, we let life happen to us, we gradu­ally build up a store of memories. There is the question of accumulation, but not in the sense that Adrian meant, just the simple adding up and adding on of life. And as the poet pointed out, there is a difference between addition and increase.

Veronica bedrängt er mit einer Flut von emails sich mit ihm zu treffen, ihm zu erzählen, was wirklich geschah. Er möchte “try to get under Veronica’s skin,”, doch Veronica verweigert sich, Tony verstehe nichts, bis sie Tony, fast zum Schluss, auf ein Geheimnis stößt, bis Tony endlich sagen kann: Now I knew.” Was aber noch nicht stimmt.

Bis sich die Rätsel lichten, vergeht viel Zeit, der Roman zieht sich, weil sich Tony weigert sich einzugestehen, dass die Vergangenheit vorbei ist. Er zieht für sich nicht die Schlüsse aus seiner Ansicht, die Geschichte sei odd, whimsical, wobbly; er sucht „corroboration“ (Erhärtung), die es nicht geben kann. An „eine scharfe Brise Kafka“ (Susanne Mayer, ZEIT) habe ich dabei nicht gedacht. Reizvoll sind Barnes Spekulationen über die Gewissheiten der Geschichte.

 I survived. `He survived to tell the tale‘ – that’s what people say, don’t they? History isn’t the lies of the victors, as I once glibly assured Old Joe Hunt; I know that now. It’s more the memories of the survivors, most of whom are neither victorious nor defeated. […] 
Later on in life, you expect a bit of rest, don’t you? You think you deserve it. I did, anyway. But then you begin to understand that the reward of merit is not life’s business. […]
Also, when you are young, you think you can predict the likely pains and bleaknesses that age might bring. You imagine yourself being lonely, divorced, widowed; children growing away from you, friends dying.You imagine the loss of status, the loss of desire – and desirability. You may go further and consider your own approaching death, which, despite what company you may muster, can only be faced alone. But all this is looking ahead. What you fall to do is look ahead, and then imagine yourself looking back from that future point. Learning the new emotions that time brings. Discovering, for example, that as the witnesses to your life diminish, there is less corroboration, and therefore less certainty, as to what you are or have been. Even if you have assiduously kept records – in words, sound, pictures – you may find that you have attended to the wrong kind of record-keeping. What was the line Adrian used to quote? ‚History is that certainty produced at the point where the imperfections of memory meet the inadequacies of documentation.

Der – wie so oft verflachte – deutsche Titel ist “Vom Ende einer Geschichte“. Ich hab’, wohl zum ersten Mal seit der Schulzeit, ein Buch auf Englisch gelesen. Es ging ganz gut, man muss nicht jedes Wort verstehen. Die wichtigen tauchen immer wieder auf und können immer wieder nachgeschlagen werden. Etwas eigen: die Kommas im Englischen. Andererseits kann man sich fragen, ob es wirklich wichtig ist, wo die Kommas stehen.

2011     150 Seiten    

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Julian Barnes: Unbefugtes Betreten (Geschichten)

barnesbetretenDie letzte Geschichte gab dem englischen Titel dem Namen: „Pulse“. Es ist eine Kurzversion „Vom Ende einer Geschichte“, es geht um die Frage, ob die Eltern für das Schicksal der Kinder verantwortlich gemacht werden können, für die Probleme bei der Partnerfindung und –bindung. Auch die meisten anderen Stories kreisen um dieses Thema. Der Mann ist der Reflektive, deshalb Unterlegene, dem Leben nur mit Prothesen gewachsen, z.B. mit dem „Lastschriftverfahren“. Den Frauen mag man nicht die Schuld aufbürden, das gehört zum männlichen Rollenbild, aber einfacher könnten sie es einem schon machen. Nicht bloß schreien, wenn einem nach Schreien ist.

Er sah auf ihre Brasher Supalites hinab: Adlerfarn hatte sich in den Ösen verfangen, und dass er sie am Morgen noch poliert hatte, war nicht mehr zu sehen. »Entschuldige – das versteh ich nicht.«
»Was?«
»Warum du geschrien hast.« »Weil mir danach war.«
Ah, da fehlten mal wieder die Wegmarken. »Und … warum war dir danach?«
»Einfach so.«
Nein, das hatte er falsch gehört oder missverstanden oder was. »Hör zu, es tut mir leid, vielleicht habe ich dir eine zu harte Wanderung -«
»Mir geht’s gut, hab ich doch gesagt.« »War es, weil -«
»Ich hab’s dir gesagt: Mir war einfach danach.«
Sie ließen den Gritgrat hinter sich und gingen schweigend hinunter zum Wagen. Als er seine Schnürsenkel löste, zündete sie sich eine Zigarette an. Pardon, aber dieser Sache musste er auf den Grund gehen.
»Hatte das etwas mit mir zu tun?«
»Nein, es hatte etwas mit mir zu tun. Schließlich bin ich diejenige, die geschrien hat.«
»Ist dir danach, es wieder zu tun? Jetzt zum Beispiel?« »Wie meinst du das?«
»Ich meine, wenn dir jetzt wieder danach wäre zu schrei­en, was wäre das für ein Gefühl?«
»Es wäre ein Gefühl, Geoff, als sei mir wieder danach zu schreien.«
»Und wann, glaubst du, wirst du das wieder tun?«
Darauf antwortete sie nicht, was keinen von beiden er­staunte. Sie zermalmte die Silk Cut mit ihrem Supalite, begann die Schnürsenkel zu lösen und schnippte Adler­farnfetzen auf den Asphalt.
»4 Std. inkl. Mittag Grouse«, trug er in seinem Wander­buch ein. »Wetter gut.« In der hintersten Kolonne trug er ein rotes »L« am Schluss einer ununterbrochenen Verti­kalen roter »L« ein. In dieser Nacht legte er sich quer ins Bett. Na dann viel Glück, Alter, dachte er. Während des Frühstücks blätterte er in einer Nummer von Country Wal­king und füllte dann das Anmeldeformular für den Wan­derverein aus. Da stand, man könne entweder per Scheck zahlen oder per Lastschriftverfahren. Das überlegte er eine Weile, dann entschied er sich für das Lastschriftverfahren.

Julian Barnes erzählt nicht nur, sondern reflektiert seine Erzählung gleichzeitig. Er stellt sich und dem Leser Fragen, die aber beide nicht beantworten können, weil es keine eindeutig richtige Handlungsweisen geben kann.  Es gibt in dieser Umgebung seltsam eingefügte Geschichten über historische Personen, einen taubstummen Portraitisten etwa, oder über Anita, die Liebe von Giuseppe Garibaldi: „Carcassonne“. Die Themen sind die Themen von Barnes. Als ‚Stilübungen’ darf man das wohl bei einem Booker-Preisträger nicht abtun.

Für manche fängt das Teleskop dort draußen in der Lagune das Sonnenlicht ein, für andere nicht. Wir wählen, wir werden gewählt, wir bleiben ungewählt. Ich sagte zu meiner Freundin, die sich immer die Spinner aussucht, vielleicht sollte sie nach einem netten Spinner Ausschau halten. Sie antwortete: »Aber wie erkenne ich den?« Wie die meisten Menschen glaubte sie, was ihr Partner ihr erzählte, bis sie einen berechtigten Grund hatte, ihm nicht zu glauben. Sie war jahrelang mit einem Spinner zusammen, der immer pünktlich ins Büro ging; erst gegen Ende der Beziehung fand sie heraus, dass er jeden Tag als Erstes einen Termin bei seinem Psychiater hatte. Ich sagte: »Du hast einfach Pech gehabt.« Sie sagte: »Ich will nicht, dass das Pech war. Wenn es Pech ist, kann ich nichts dagegen tun.« Man sagt ja, letzten Endes bekomme man immer, was man verdient habe, aber dieser Spruch gilt auch anders herum. Man sagt, in den modernen Städten gebe es zu viele umwerfende Frauen und zu viele entsetzliche Männer. Die Stadt Carcassonne macht einen soliden und beständigen Eindruck, aber was wir dort bewundern, sind meist Rekonstruktionen aus dem neunzehnten Jahrhundert. Vergessen wir die Spekulation, ob etwas »von Dauer sein wird« und ob Dauerhaftigkeit überhaupt eine Tugend, Belohnung, Anpassung oder wieder nur Glück ist. In welchem Maß handeln wir selbst, und in welchem Maß sind wir ein passives Objekt in jenem Moment leidenschaftlich bewegten Geschmacks? 

Der “Erzählzyklus” “Bei Phil & Joanna 1 – 4” versammelt Dialoge aus der englischen Mittelschicht, die wie Vorstufen zu einer Erzählung wirken. Die Figuren auf dem – deutschen – Cover sind ähnlich diffus wie die auf dem Cover “Vom Ende einer Geschichte”. Ikonen, gedankenlos. Man sollte auf den nächsten Roman warten.

2011         290 Seiten


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