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Karl-Heinz Ott: Wintzenried
„Der phantastisch skurrile Roman von Karl-Heinz Ott erzählt das Leben Rousseaus, wie es noch nicht erzählt worden ist.“ (Klappentext) Und wie es hätte auch nicht erzählt werden müssen. Denn Ott reduziert Rousseau auf den hibbeligen, überspannten, exaltierten, „unbehausten“ Menschen, der er wohl war, der aber nur einen Teil seines Universalgenies ausmacht. Nur beim Musiker und Komponisten Rousseau geht Ott etwas näher auf die Leistungen ein, seine Ansichten über die Erziehung werden insofern gestreift, als Rousseau sie in seine Briefkontakte einfließen lässt. Ott zeigt einen Rousseau, der ständig auf der Flucht ist, vor imaginierten Verfolgern, vor Frauen, vor „Freunden“, vor sich selbst. Das ermüdet auf längere Sicht, auch wenn der Roman bloß gute 2oo Seiten hat. Was nicht heißen soll, dass Rousseau nicht wahnhafte Züge hatte. Bloß sollte doch deutlicher gezeigt werden, dass die Anfeindungen auch Ursachen in seinen Schriften hatten, die meist „unerhört“ und revolutionär waren. Ott macht Rousseau zu klein – und nennt ihn deshalb auch immer bloß Jean-Jacques.
Der Perückenmacher Wintzenried ist Konkurrent Jean-Jacques bei „Mama“, wie er seine erste weibliche Bezugsperson – nicht seine Mutter – nennt. Wintzenried sollte erstes Opfer des Rousseauschen Erziehungsfurors werden, im Roman spielt er weiter keine Rolle.
Warum nur musste ich Schriftsteller werden? Ich hätte mir alles ersparen können, Paris, Diderot und diesen ganzen Ruhm, der nichts als Elend über mich gebracht hat. So lauten Jean-Jacques‘ letzte Sätze, die er zu Papier gebracht hat. Wäre ich nur bei Mama geblieben, abseits der Welt, im schönen Savoyen, alles wäre anders gekommen. In ihrer Reichweite, ihrem Schatten, ihrer Obhut. Welch friedliche, köstliche Tage hätten wir gemeinsam verbracht. Die Stelle, an der sie mich zum ersten Mal angeschaut hat, müsste ein Wallfahrtsort werden, dem die Leute sich bloß noch auf Knien nähern dürfen. Ich hätte niemals nach Paris gehen dürfen. Wäre Wintzenried nicht gewesen, hätte ich niemals zur Feder greifen müssen. Süßes Dunkel der Unbekanntheit, dreißig Jahre lang warst du mein Glück, hätte ich dich doch nie verlassen. Ohne Wintzenried wäre alles gut gewesen.
Das sind aber schon die letzten Sätze. Man könnte prüfen, ob diese Figur Wintzenried wirklich Auslöser war, aber ich halte das nicht für lohnend. Insofern ist die Namensgebung des Buches auch Irreführung. Weshalb?
Otts Roman ist ein Versuch einer Annäherung an eine Person der Geschichte. Man kann den Star durchaus als unsympathischen Psychopathen vorführen, aber weshalb muss so einer der Rousseau sein? Der hat doch auch solche Sätze geschrieben: Der Mensch ist frei geboren, und liegt überall in Ketten. Otts Jean-Jacques ist ein kleiner Rousseau. Er nervt zu ausufernd, der Versuch überzeugt mich nicht.
Otts „Helden haben häufig damit zu tun, sich vor aufdringlichen Mitmenschen in Sicherheit zu bringen und das eigene labile Selbstbewusstsein durch manische Übersteigerung zu befestigen. Mit Rousseau geht er noch einen Schritt weiter. In wilder Entschlossenheit holt er alles, was nach Geist, Theorie, Werk und Bedeutung klingen könnte, ins Triebhaft-Animalische. Aufklärung ist nicht mehr als eine persönliche Eitelkeit, ja, es stellt sich die Frage, ob Rousseau überhaupt Aufklärer ist. Ott zeigt ihn als einen Popstar seiner Zeit, von dem keine Wahrheiten zu lernen sind, sondern allenfalls Strategien der Selbstinszenierung. „Wintzenried“ ist eine Form der Dekonstruktion von Philosophie.“ (Jörg Magenau, Dradio Kultur)
Für mich ist die Form nicht geglückt. Die Philosophie ist abgerissen.
2011 205 Seiten
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