Eugen Ruge:
In Zeiten des abnehmenden Lichts
Vor dem Lesen rät sich an, ins Inhaltsverzeichnis zu blicken. Da stehen zwar nur Jahreszahlen, aber die strukturieren die „Zeiten des abnehmenden Lichts“. Es sind drei Zeitebenen: 2001 – die Gegenwart, der 1. Oktober 1989 – Verknüpfungsort von Personen und Handlung und eine dritte Ebene, welche die anderen schneidet: der eigentliche Erzählstrang von 1952 bis 1995.
In diesen Ebenen agieren die Hauptpersonen und werden darin älter. Die Generation der Großeltern: Charlotte und Wilhelm, die Eltern: Kurt und Irina, und Alexander, als Junge Sascha, der Erzähler, der zurückblickt auf die Leben. Und diese Leben enden, wie Leben halt so enden: als groteskes Trauerspiel. Ein langer idealistischer Kampf fließt in Demenz aus. Ist etwas geblieben vom Licht? Der Aufklärung? Den Projekten, für die man seine Gedanken und seine Körper einsetzte? In der Sowjetunion? In Mexiko? In der DDR?
Ruge organisiert seinen Roman raffiniert. Alexander ist im Alter des Autors. Als Kind versteht er noch wenig, als Heranwachsender macht er sich seine eigenen Probleme, 2001 ist er krank, er hat sich davongemacht, ausgerechnet, aber nicht ganz zufällig nach Mexiko, dem Land, in dem die Großeltern ihr Exil gefunden hatten. Wilhelm und Charlotte lebten für ihre Ideale, den Kommunismus, bis sich diese Ideale in DDR-Orden auflösen. Die Farce: „Ich habe genug Blech im Karton.“ Alexander hat nie solche Ziele gefunden, er irrt durchs Leben und Lieben, er könnte frei sein. Die mittlere Generation, Kurt und Irina – Kurt hat sie aus der Sowjetunion mitgebracht – haben sich im DDR-Alltag eingefunden, sie kriegen noch mit, wie „das Licht“ abnimmt, sie sind mit der Organisation des Lebens beschäftigt.
1976: Wenn Irina den Ursprung jener Aprikosen hätte erklären sollen, die sie am Vormittag des Weihnachtstages in Würfel schnitt, um sie, zusammen mit anderen Früchten, zur Füllung ihrer […]gans zu verarbeiten. […] (Da) brachte der Postbote ein großes Paket in den Fuchsbau, schwer wie ein Ziegelstein, das nichts anderes enthielt als schwarzen russischen Kaviar. Den geringsten Teil dieses Kaviars verzehrten Kurt und Irina selbst, […] der größte Teil des Sobakin’schen Kaviars jedoch ging als Schmier- und Zahlungsmittel in den undurchsichtigen Kreislauf der unter Ladentischen und in Hinterzimmern gehandelten Waren ein.
In der Galerie am Stern erstand Irina gegen Zuzahlung von Kaviar mehrere Stücke der begehrten Waldenburg-Keramik, Ofenbrand mit bräunlichen Flugascheresten, die sie wiederum als Schmiermittel beim Erwerb von Dachfenstern verwendete; einen Teil der Dachfenster, die sie selbst nicht benötigte, brachte sie mit dem Pkw-Anhänger nach Finsterwalde und tauschte sie dort gegen etwas breitere Dachfenster (100 cm) ein, welche alsbald Fischer Eberling aus Großzicker auf Rügen abholte und dafür eine Kiste Aal hinterließ, den er – natürlich illegal – in einer hinter der Garage versteckten Kammer geräuchert hatte.
Zwei dieser Aale verspeiste Nadjeshda Iwanowna, die erst kürzlich in der DDR eingetroffen war und ihre Anspruchslosigkeit unter Beweis stellen wollte (Esst ihr mal das gute Brot, für mich sind die Schlangen gut genug); drei Aale hob Irina für Sascha auf, der sie allerdings, wie er sagte, «aus Respekt vor dem Lebenswillen dieser Tiere» nicht essen wollte (früher hatte er immer Aal gegessen!); drei Räucheraale bekam der Fleischer, der Irina die berühmten «blinden Pakete» packte, deren Inhalt (aus Rumpsteaks, geräucherten Schweinefilets oder gekochtem Schinken bestehend) den anderen Kunden nicht offenbart werden durfte; drei bekam der Autoschlosser; einen der Buchhändler; und zwei schließlich eine ehemalige Kollegin, aus deren väterlichem Kleingarten jene getrockneten Aprikosen stammten, außerdem Quitten und dickschalige Winterbirnen, die Irina schälte und würfelte und zusammen mit den schon eingeweichten Aprikosen sowie halbierten Feigen aus dem Russenmagazin, Rosinen (die sie anstelle von Weintrauben benutzte), Esskastanien (die sie eigenhändig auf den Caputher Hügeln gesammelt hatte) und etwas strunkigen, deshalb feingeschnittenen Kuba-Orangen (die sie schlicht und einfach im Laden gekauft hatte!) in eine Pfanne gab, in reichlich Butter andünstete, mit armenischem Kognak ablöschte und als Füllung in ihre Weihnachtsgans stopfte, die sie nach einem dreihundert Jahre alten Rezept zubereitete .
1991: Wenn Irina hätte erklären sollen, woher die Aprikosen kamen, die sie für die Füllung ihrer Klostergans benötigte, hätte ein Satz genügt: Die Aprikosen kamen aus dem Supermarkt.
Auch die Weintrauben kamen aus dem Supermarkt. Die Feigen kamen aus dem Supermarkt. Die Birnen, die Quitten, alles kam aus dem Supermarkt. Unter diesen Umständen, dachte Irina, war es eigentlich keine Kunst, eine Klostergans zu bereiten. Sogar Esskastanien gab es im Supermarkt, fix und fertig gebacken und geschält, und nachdem sie sich letztes Jahr noch gesträubt hatte, Esskastanien fix und fertig im Supermarkt zu kaufen, hatte sie dieses Mal zugegriffen – wozu sich unnötig Arbeit machen?
D e r Tag des Romans ist der 1. Oktober 1989. Die Familie trifft sich – noch einmal -, um den 90. Geburtstag des Großvaters zu „feiern“. Er steht vor seinem Ende – wie die DDR, wie der „Sozialismus“. Die Zeremonie besteht aus Vergangenheit, die Riten sind ausgeblasen. Die Fröhlichkeit resultiert mehr und mehr aus der allseitigen Verblödung. Diesen 1. Oktober 1989 lässt Eugen Ruge abwechselnd von den Personen des Romans erleben. In diesen wechselnden Perspektiven der erlebten Rede findet der Leser Bekanntes wieder, dadurch wird’s doppelt heiter, weil die jeweils anderen Perspektiven entlarvt, ihrer vermeintlichen Objektivität beraubt werden. Der Ernst der Großeltern und ihrer Zeit verschwindet hinter den Problemen des (Ur)Enkels. Ruge zieht damit auch aus dem körperlichen und geistigen Verfall der jeweils alt gewordenen eine Menge Spaß, ohne die Alten, es sind ja seine Vorfahren, zu denunzieren. Die Gespräche sind sehr vital, Ruge kann das gut.
Und schon klingelte es wieder. Die Urgroßmutter verschwand im Flur, das Palaver der Saurier, das nach der Ermahnung für einen Moment abgeschwollen war, nahm wieder an Lautstärke zu, man redete, trotz Verbots, über die politische Lage und über Ungarn und das ganze Zeug, und Markus registrierte erstaunt, dass die Saurier dieselbe Meinung vertraten wie Pfarrer Klaus in Großkrienitz:
– Mähr Demogradie, schrie der dicke Mann mit dem roten Gesicht, selbstvorständlisch prauchen wir mähr Demogradie!
Aber schon ging die Urgroßmutter dazwischen und klatschte in die Hände:
– Genossen, rief die Urgroßmutter, Genossen, ich bitte um Ruhe!
Ein Mann im braunen Anzug war eingetreten. Er sah aus wie sein Schuldirektor Brietzke und hielt eine rote Mappe in der Hand, jemand ließ ein Glas klingen, eine Rede anscheinend, jetzt kam der offizielle Teil, dachte Markus. Wo blieb eigentlich sein Vater?
– Liebe Genossen, lieber, verehrter Genosse Powileit, begann der Schuldirektor, und sein Tonfall war schon bei diesen ersten Worten so ermüdend, so typisch Rede, dass Markus überlegte, ob er, die letzte Unruhe nutzend, noch rasch versuchen sollte, in den Wintergarten zu entkommen, aber zu spät, ihm blieb nichts übrig, als abzuwarten. Er stand jetzt am Fenster, vor Wilhelms Schreibtisch – auch museumsreif, samt den altertümlichen Utensilien, die darauf lagen: Brieföffner (gleich mehrere), Holzstifte (rot), eine große Lupe -, und erinnerte sich, während der Schuldirektor Wilhelms Lebenslauf ausbreitete, dass auch Wilhelm damals, als er in seiner Klasse gewesen war, vom «Kap-Putsch» erzählt hatte und dass er dabei verwundet worden war, und obwohl er gar nicht wusste, wie es dort aussah, hatte Markus seinen Urgroßvater schon damals am Kap Hoorn gesehen, mit Sombrero und gezücktem Trommelrevolver zum Angriff reitend und – peng! – vom Pferd fallend. So war es garantiert nicht gewesen, dachte Markus, vielleicht hieß einfach ihr Anführer «Kap»? Vielleicht war das der Mann im Beiwagen? Fuhren sie gerade zum Putsch? Oder war das Foto aus der Nazizeit, als Wilhelm, wie der Schuldirektor jetzt berichtete, illegal tätig gewesen war, und Wilhelm hatte sich als SA-Mann verkleidet? Später, sagte der Schuldirektor, musste Wilhelm aus Deutschland fliehen – nur wie er geflohen war, das verriet der Schuldirektor nicht, und Markus fragte sich abermals, ob es denn keine Grenze gegeben hatte in Deutschland? Wurde sie nicht bewacht? Und wo war eigentlich während der ganzen Zeit Urgroßmutter Charlotte?
– … dir, lieber Genosse Powileit, den Vaterländischen Verdienstorden in Gold zu verleihen, hörte Markus den Schuldirektor sagen. Das hörte sich bombastisch an, Vaterländischer Verdienstorden, ein bisschen nach Kaiser und Krieg, und auch noch in Gold, alle klatschten jetzt, der Schuldirektor ging auf Wilhelm zu, den Vaterländischen Verdienstorden in der Hand, aber Wilhelm stand nicht mal auf, sondern hob nur die Hand und sagte:
– Ich hab genug Blech im Karton.
Alle lachten, nur die Urgroßmutter schüttelte den Kopf, dann steckte der Schuldirektor Wilhelm den Orden an, und alle klatschten wieder und standen auf und wussten auf einmal nicht, wie sie aufhören sollten zu klatschen, und klatschten immer noch, als die Urgroßmutter endlich mit schriller Stimme dazwischenrief:
Das Buffet ist eröffnet!
Die „Zeiten des abnehmenden Lichts“ sind keine Weltgeschichte, auch keine deutsche oder DDR-Geschichte. Die Geschichte spielt herein, aber die Küchendämpfe widersetzen sich. Im Mittelpunkt steht das Treffen – auch wenn immer wieder Gäste ausbleiben -, das Kochen, das Essen, das Feiern. Im Mittelpunkt stehen Küche und Wohnstube. Russland ist noch als Erinnerung und in Person der Schwiegermutter da, Mexiko liefert ein paar Souvenirs: Leguane und Reiseziele. Die Lichter gehen aus. Bleibt was?
2011 425 Seiten
3SAT Kulturzeit-Gespräch mit Andreas Isenschmid
![]() +2 |
![]() |
Kommentar verfassen so far
Hinterlasse einen Kommentar