Nachrichten vom Höllenhund


Bremer
9. Dezember 2011, 19:14
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter:

Jan Peter Bremer: Der amerikanische Investor

Auch als er jetzt an seinem Schreibtisch saß und in seinem leeren Kopf nach dem verschollenen Satz suchte, beschlich ihn wieder diese Wehmut. Sie war inzwischen allgegenwär­tig.

Der Erzähler redet sich ein, Auslöser dieser Megamelancholie sei der Verkauf des Mietshauses an den amerikanischen Investor, was zur Folge hat, dass nicht mehr instandgesetzt wird, sich die Böden senken und die Armaturen nicht mehr funktionieren. „Vielleicht sollte er dem amerikanischen Investor einen Brief schreiben, wer er sei und was er tue. Vielleicht war der amerikanische Investor ein Mensch mit einem großen Herzen für die Literatur.“ Doch der Erzähler ist kein Sisyphos. Die Vorstellung lähmt ihn so sehr, dass er endgültig dem Nichtstun verfällt. Oblomowschtschinaextrem. Lethargie gesteigert.

Anfangs geht er noch aus dem Haus, führt seinen Hund spazieren, kümmert sich kärglich um die Familie, bewegt sich vom Schreibtisch zum Fenster und zurück. Ab der Mitte des Buches liegt er im Bett, seine Gedanken schweifen weiter zum amerikanischen Investor, zur immer stärker abwesenden Familie, zu geplanten Aktivitäten und deren Folgen. Die Handlung reduziert sich in die ersten Sätze der Abschnitte:

Er griff sich an die Brust. – Er schüttelte den Kopf. – Er sah zur Tür. – Er warf den Kopf in den Nacken. – Er schloss die Augen. – Er öffnete die Augen und schloss sie wieder. – (und weitere 80 Seiten lang)

 Er schnellte hoch, atmete tief durch und sah sich um. Zumindest seine Unordentlichkeit hatte er sich bewahrt. Vielleicht war es gerade diese Unordentlichkeit, aus der sich, wie aus einem Haufen Streichhölzer, etwas erbauen ließe. Aber was wollte er erbauen und war es schon bürger­lich, den Kindern etwas zu essen in die Schule mitzugeben? War es bürgerlich, auch von den Gästen zu verlangen, sich beim Pinkeln auf die Klobrille zu setzen? Sollte er sich womöglich dazu zwingen, vermehrt wieder im Stehen zu urinieren! Aber wie lange würde er das durchhalten, und war nicht allein die Tatsache, dass er mitten am helllichten Tag im Bett lag, das Gegenteil von Bürgerlichkeit? Ge­nügte nicht die hartnäckige und unabänderliche Verläss­lichkeit, mit der er seit Jahren schon kein Geld verdiente, sondern, einem Vögelchen im Neste gleich, immerzu mit aufgesperrtem Schnabel darauf wartete, dass seine Frau endlich von der Arbeit kam, ihn von allzu großer Bürger­lichkeit loszusprechen?
Er ließ sich auf das Kissen zurücksinken. […]
War er überhaupt noch in der Lage, sich jemals wieder zu erheben, oder hoffte er insgeheim wirk­lich, dass seine Frau ihn heute, hier im Bett und bar jeder Fassade antreffen würde, einen plötzlich steinalten Mann, der undankbar zu ihr hinaufblickte und sie mit herrischer Geste in die Küche beorderte, damit sie ihm in der weißen Tasse mit dem kleinen Sprung am Rand einen Pfefferminz­tee aufbrühte?
Er sah zur Decke hinauf.

Das ist im Stil gekonnt elegant, es ist ja auch nicht leicht, das implodierende Nichts über 150 Seiten durchzuhalten bzw. zu variieren. Das kann auch als Parabel gelesen werden auf die Unmöglichkeit des Einzelnen, gegenüber übermächtigen anonymen Herrschafts- und Finanzverhältnissen zu reagieren. Den amerikanischen Investor imaginiert er sich in einem Flugzeug um die Welt kreisend, gottgleich. Auch die Gentrifizierung des Kiez schwingt natürlich mit. Parabeln aber sind nicht so lang oder sollten nicht so lang sein. Das Erzählen Bremers verselbständigt sich, bleibt aber amüsant. Für jemanden, der sowas gern liest.

2011       160 Seiten

2-3


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