Nachrichten vom Höllenhund


Zeh
2. Januar 2012, 12:38
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Juli Zeh: Corpus Delicti

Es ist alles da, was die Sozialdystopie braucht. Der Totalstaat, die staatstragende Ideologie, die gleichlallende Volksgemeinschaft, hier i.G.v. drei blondhirnigen Miezhaustussen. Die Arkannischen Wald und Wiese. Der Gute, schon tot, im Prozess rehabilitiert, ein Scheinsieg. Der Märtyrer, hier: die Märtyrerin, das Corpus Delicti. Der Konflikt entzündet sich an der Zigarette.

Mia Holl ist die Rationalistin, die naturwissenschaftlich denkt. Wenn es denn rational ist, den unbotmäßigen Bruder im Herzen, die Kilometer naschzustrampeln, welche die METHODE als Gesundheitsleistung von den Untertanen einfordert. Rational heißt auch opportunistisch, Ärger vermeidend, dem man nicht ausweichen kann. Mia will ihre Ruhe, zunächst nicht mehr. Dann haut sie ihr Manifest raus! – Bruder Moritz Moll, durch Selbstmord der METHODE entzogen, ist der Radikale. Das Ideal. Geht er doch in den Wald, in dem die Keime lauern. Dessen Betreten deshalb verboten ist. Mia ist das liebende kleine Schwesterchen. Was sie will, will sie für Moritz, für sich will sie nichts. Antigone. – Nebenfiguren: Rosentreter, der Anwalt, biederer Restidealist. Kramer, Medienmann, vernünftig wie das System, zynisch freundliches Arschloch. – Fürs Emotionale ist “die ideale Geliebte” zuständig, eine virtuelle Avatarin, vom Sofa zunächst so wenig zu verbannen wie aus dem Sinn. Die ideale Geliebte ist in ihrer Gefühlswelt rationaler als die unentschiedene Mia. Bis sich Mia nach dem Prozess alleine stark wähnt und die ideale Geliebte liegenlässt und vergisst.

Darauf erwidert Mia nichts. Sie steigt vom Home­trainer und stellt sich ans Fenster. Ein Vogel ist im Blumenkasten gelandet, pickt enttäuscht an den künst­lichen Blüten und sieht Mia vorwurfsvoll an, bevor er davonfliegt.
»Wer keine Seite wählt«, sagt die ideale Geliebte, »ist ein Außenseiter. Und Außenseiter leben gefährlich. Von Zeit zu Zeit braucht die Macht ein Exempel, um ihre Stärke unter Beweis zu stellen. Besonders, wenn im Inneren der Glaube wackelt. Außenseiter eignen sich, weil sie nicht wissen, was sie wollen. Sie sind Fallobst.«
»Ich bin doch keine Außenseiterin«, sagt Mia schwach.
»Tief in deinem Herzen bist du der Meinung, dass der Umgang mit anderen Menschen Zeitverschwen­dung ist. Mit wenigen Ausnahmen, von denen die eine Hälfte tot und die andere dein Todfeind ist. Das reicht fürs Außenseitertum.«
Während die äußere Mia störrisch tut, als verstünde sie nicht, worauf die ideale Geliebte hinauswill, ist die innere Mia mit der traurigen Aufgabe beschäftigt, ihr in allen Punkten recht zu geben. Natürlich weiß Mia, worum es geht. Die METHODE gründet sich auf die Ge­sundheit ihrer Bürger und betrachtet Gesundheit als Normalität. Aber was ist normal? Einerseits alles, was der Fall ist, das Gegebene, Alltägliche. Andererseits aber bedeutet »normal« etwas Normatives, also das Ge­wünschte. Auf diese Weise wird Normalität zu einem zweischneidigen Schwert. Man kann den Menschen am Gegebenen messen und zu dem Ergebnis kommen, er sei normal, gesund und folglich gut. Oder man erhebt das Gewünschte zum Maßstab und stellt fest, dass der Betreffende gescheitert sei. Ganz nach Belieben. So­lange man dazugehört, dient dieses Schwert der Vertei­digung. Befindet man sich draußen, stellt es eine schreckliche Bedrohung dar. Es macht krank.

Mia spricht nicht Romansprache. Sie eignet sich auch nicht zur Hauptfigur, Heldin, Märtyrerin. Wer so argumentiert, ist nicht gefährlich, weil nicht massenwirksam. Deshalb muss Zeh Mia aufbauen, muss sie zur Rächerin des toten Bruders werden lassen. Weshalb Zeh nicht gleich Moritz zum Protagonisten macht, weiß ich nicht, logischer wär’s gewesen, denn Mia ist eine zu schwache Antipodin der METHODE. Vielleicht will Zeh zeigen, dass auch die Angepassten in die Maschen der METHODE geraten können? Vielleicht liegt ihr eine weibliche Hauptfigur mehr, gibt mehr für die ausgewiesene Geschwisterliebe her? „Jung, attraktiv“, verspricht der Klappentext.

 Mias Manifest:
Ich entziehe einer Gesellschaft das Vertrauen, die aus Menschen besteht und trotzdem auf der Angst vor dem Menschlichen gründet. Ich entziehe einer Zivilisation das Vertrauen, die den Geist an den Körper verraten hat. Ich entziehe einem Körper das Vertrauen, der nicht mein eigenes Fleisch und Blut, sondern eine kollektive Vision vom Normalkörper darstellen soll. Ich entziehe einer Normalität das Vertrauen, die sich selbst als Gesundheit definiert. Ich entziehe einer Gesundheit das Vertrauen, die sich selbst als Normalität definiert. Ich entziehe einem Herrschaftssystem das Vertrauen, das sich auf Zirkelschlüsse stützt. Ich entziehe einer Sicherheit das Vertrauen, die eine letztmögliche Antwort sein will, ohne zu verraten, wie die Frage lautet. Ich entziehe einer Philosophie das Vertrauen, die vorgibt, dass die Auseinandersetzung mit existentiellen Problemen beendet sei. Ich entziehe einer Moral das Vertrauen, die zu faul ist, sich dem Paradoxon von Gut und Böse zu stellen und sich lieber an »funktioniert« oder »funktioniert nicht« hält. Ich entziehe einem Recht das Vertrauen, das seine Erfolge einer vollständigen Kontrolle des Bürgers verdankt. Ich entziehe einem Volk das Vertrauen, das glaubt, totale Durchleuchtung schade nur dem, der etwas zu verbergen hat. Ich entziehe einer METHODE das Vertrauen, die lieber der DNA eines Men­schen als seinen Worten glaubt. Ich entziehe dem allge­meinen Wohl das Vertrauen, weil es Selbstbestimmtheit als untragbaren Kostenfaktor sieht. Ich entziehe dem persönlichen Wohl das Vertrauen, solange es nichts weiter als eine Variation auf den kleinsten gemeinsamen Nenner ist. Ich entziehe einer Politik das Vertrauen, die ihre Popularität allein auf das Versprechen eines risiko­freien Lebens stützt. Ich entziehe einer Wissenschaft das Vertrauen, die behauptet, dass es keinen freien Wil­len gebe. Ich entziehe einer Liebe das Vertrauen, die sich für das Produkt eines immunologischen Optimie­rungsvorgangs hält. Ich entziehe Eltern das Vertrauen, die ein Baumhaus »Verletzungsgefahr« und ein Haus­tier »Ansteckungsrisiko« nennen. Ich entziehe einem Staat das Vertrauen, der besser weiß, was gut für mich ist, als ich selbst. Ich entziehe jenem Idioten das Ver­trauen, der das Schild am Eingang unserer Welt abmon­tiert hat, auf dem stand: »Vorsicht! Leben kann zum Tode führen.«
Ich entziehe mir das Vertrauen, weil mein Bruder sterben musste, bevor ich verstand, was es bedeutet zu leben.

Das ist zu lang. Zu intellektuell. Zu sehr Elfriede Jelinek. Der Roman kann sich nicht auf sein Konstrukt verlassen. Zeh nennt ihn denn auch “Ein Prozess”. Sie hat dafür ein Bühnenstück umgearbeitet. “Corpus Delicti” ist ein Diskurs über die Freiheit des Individuums, die Freiheit, sich dem Staat zu entziehen. Zu sehr gelehrter und belehrender Diskurs, zu wenig Erzählung. Mias Anwalt schafft es im Prozess zu beweisen, dass Bruder Moritz nicht der Vergewaltigungstäter gewesen sein muss. Moritz hat als Junge eine Knochenmarkspende erhalten.

Die Beweiskette des Anwalts:
»Nach der Transplantation besitzt der Leukämiekranke die Blutgruppe seines Spenders!« Rosentreter prescht voran wie ein Flüchtender, der nur noch eine Möglichkeit sieht, vor der Flinte des Heckenschützen ins Ziel zu kommen: Geschwindigkeit. »Er übernimmt auch das Immunsystem seines Spenders. Und er übernimmt …«
»Rosentreter! «, ruft Kramer.
»Die DNA! «

Auch wenn das richtig wäre, als Argument gegen die METHODE ist es schwach, weil zu selten, zu gesucht, gültig für Einzelfälle. Weshalb nutzt Zeh nicht offensichtliche Defizite einer Gesundheitsdiktatur? Die Erkenntnisse darüber, was – etwa beim Essen – ungesund ist, sind oft nur vermeintliche: Es fehlen die Daten oder sind falsch interpretiert oder berechnet, es wurde – von wem und zu welchem Zweck auch immer – manipuliert oder noch einfacher: Das Ungesunde ist das Gesunde. Die Keime etwa, die der Körper braucht, um sich an ihnen abzuarbeiten und zu stärken. Oder der Alkohol, der – in Maßen genossen – die Südländer länger leben lässt, nicht ungesättigte Öle. Ein totalitärer Staat kann natürlich willkürlich verordnen, aber irgendein Ziel im Sinne der Sache wird er damit nicht erreichen. Totalitär meint hier das Konglomerat von Wirtschaft, Politik, Medien und Selbstverstümmelung des grundverängstigten Volkes. Kramer über den “Wutbürger”: „Gibt man dem Freiheitskämpfer Macht und Einfluss innerhalb der verhassten Maschinerie, wird er sogleich still und werkelt fortan in aller Treuherzigkeit vor sich hin.“ „Das Mittelalter”, sagt Mia Holl, „ist keine Epoche, sondern der Name der menschlichen Natur.” Im „Wächterhaus“ kommen Staat und Volk zusammen. Das passt.

 Gesundheit führt über die Vollendung des Einzelnen zur Vollkommenheit des gesellschaftlichen Zusammenseins. Gesundheit ist das Ziel des natürli­chen Lebenswillens und deshalb natürliches Ziel von Gesellschaft, Recht und Politik. Ein Mensch, der nichtnach Gesundheit strebt, wird nicht krank, sondern ist es schon.
 (Aus dem Vorwort zu: Heinrich Kramer, »Gesund­heit als Prinzip staatlicher Legitimation«, Berlin, Mün­chen, Stuttgart, 25. Auflage) (Anm. fiktiv! – Aber: Es gibt einen Heinrich Kramer: einen Dominikanermönch des 15. Jahrhunderts, Autor des berüchtigten „Hexenhammers“, in dem minuziös dargelegt wird, woran man Hexen erkennen kann.)

Realitätsnäher scheint die Frage, ob z.B. Versicherungen für Betreiber von “Risikosportarten” oder von Fettleibigen höhere Prämien einfordern dürfen. Aber auch hier sind die Prämissen zu uneindeutig. Juli Zeh beschäftigt sich damit ganz am Rande. Und sie beschäftigt sich auch nicht mit dem kommerziellen Aspekt: der Macht der ökonomischen Werbung, die gezielt auf eine Ausformung des Körpers abzielt. Interessant bleibt natürlich Zehs Blick auf die einseitige Orientierung an körperlicher Fitness, den “Verrat des Geistes an den Körper”. (Hat das auch was mit dem Alltag zu tun, wo man eher körperliche Defizite eingesteht als geistige?)

Juli Zeh setzt sich für Freiheit ein, wenn’s sein soll, auch rauchend ins Fernsehen. Sie plädiert „für ein Menschenbild, das den Menschen nicht grundsätzlich als potenzielle Gefahr für sich und andere betrachtet“. Das ist lobenswert, der Roman schiebt dieses Thema aber ins Abseits. Zeh vergisst  das über das verhobene Sprachgeplänkel immer wieder. Der Prozess wird zum Selbstzweck.

Juli Zeh redet und schreibt an gegen den teil-rigiden Sozialisierungs-Staat und schreibt sich dabei in eine Nähe von anderen konservativlibertären Predigern wie Thea Dorn oder Peter Sloterdijk. Mias letzter Wille, wie sollte es anders sein, ist der nach einer Zigarette.

2009       264 Seiten

 Juli Zeh: “Corpus Delicti – eine Schallnovelle”

3

 

2 Kommentare so far
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Wenn meine Meinung ohne mich im Raum schwebt, müsste ich doch gar nicht selbst kommen. Was gibt es zu essen?

Kommentar von vomhoellenhund

Bloggst du vor unserem Treffen über „Corpus delicti“? Dann guttenberge ich einfach deine Meinung und brauche das Buch nicht mehr zu lesen 😉

Kommentar von Andreas Hainzinger




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